Noch einmal atmete er durch, wappnete sich für alle möglichen Worst Case Szenarios. „Shana was ist hier los?“ Gabriels Worte waren nicht mehr als ein leises Flüstern im Wind. Seelenruhig verharrte sein Blick auf ihr, während sie unbeirrt in die Ferne starrte. „Nichts, ich warte nur auf Jenna und Amy und…“ Ihm war ganz und gar nicht entgangen wie sie scharf die Luft eingesogen hatte, genauso wenig wie ihr wild gewordener Herzschlag. „Du bist eine miserable Lügnerin. Raus damit.“ Ihre Augen glommen förmlich vor Trotz. „Wer sagt denn, dass ich lüge?“ Herrgott, dein Ernst?! Schnaubend baute er sich vor ihr auf. „Ich. Dein Herz verrät es mir mit jedem Schlag. Und außerdem knibbelst du dir wieder deine Finger blutig.“ Gabriel nickte in ihre Richtung und für einen kurzen Augenblick nahm ihn das frische Blut gefangen. „Wann kaperst du endlich, dass du mich nicht belügen kannst? Also tu uns beide den Gefallen und heb dir das Ganze für jemanden auf, der kein wandelnder Lügendetektor ist und sag mir was Sache ist!“ Völlig genervt verschränkte sie die Arme vor der Brust, stellte sich ihm entgegen. Im Augenwinkel sah Gabriel, dass der faule Wolf noch immer komplett auf unbeteiligt tat. „Wenn du es unbedingt wissen willst, schön! Amy und Jenna werden nicht mehr kommen, ich fahre alleine weg!“ In ihrem Blick lag wieder genügend Zündholz für einen handfesten Streit doch er zwang sich zur Ruhe. „Soweit konnte ich eins und eins auch schon zusammenzählen. Und wohin geht’s?“ Gabriel blieben nur noch wenige Augenblicke, bis der Zug einfuhr und noch war seine Neugierde nicht gestillt.
„Gabriel kann das nicht warten? Ich sehe schon den Zug und…“ Was dachte sie was das war? Ein Spiel? „Verdammt nein, kann es nicht! Zu mindestens nicht, wenn du diesen verdammten Zug erwischen willst! An deiner Stelle würde ich mich lieber sputen, sonst fährt er noch ohne dich los!“ Damit wirst du jetzt leben müssen! Gabriel bemerkte wie Shanas Gesicht rot anlief. Oh, sie ist wütend. Gut dann macht es mehr Spaß! „Ich geh meine Mum suchen und selbst du kannst mich nicht davon abbringen. Lässt du mich jetzt in Frieden?!“ Shanas Augen sprachen Bände. Gabriel wusste ganz genau, dass sie es nicht leiden konnte, wenn etwas nicht so lief wie geplant. Und er hatte gerade ihr sorgfältig gehütetes Geheimnis auffliegen lassen. Doch das was sie vorhatte, zog ihm schier den Boden unter den Füßen weg. „Du tust was?!“ Gabriel war fassungslos. Er hatte bereits vermutet, dass sie wieder zurück in ihre alte Stadt fährt, um dort jemanden zu besuchen, den Luca nicht guthieß aber das war noch ein Zacken schärfer. Und weitaus gefährlicher! „Noch mal für Taube: Ich gehe meine Mum suchen!“ Ihre zarte Stimme wurde von dem einfahrenden Zug übertönt. Hat sie jetzt vollkommen den Verstand verloren?! „Ich hatte dich schon beim ersten Mal verstanden. Ich kapier nur nicht wie ein so kluges Mädchen wie du auf so eine bescheuerte Idee kommt!“ Quietschend bremste das Ungetüm aus Metall und Plastik ab. „Ist das nicht offensichtlich? Keiner will mir etwas sagen, jeder schließt mich von Dingen, die mich betreffen aus! Ich habe die Nase voll wie ein Kleinkind behandelt zu werden. Ich bin fast siebzehn und bin sehr wohl in der Lage meine eigenen Entscheidungen zu treffen!“ Um ihre Wut zu unterdrücken atmete sie tief durch. „Und das hier…“ Demonstrativ zeigte sie auf das qualmende Fahrgerät. „Ist meine Entscheidung! Keiner wird mich davon abbringen können in diesen Zug zu steigen, nicht einmal du Gabriel!“
Der Lärm, den der alte Zug verursacht hatte war bereits einem leisen Zischen gewichen. Wie auf Kommando öffneten sich die Türen und Shana warf sich ihre Tasche um und bedeutete Faolan aufzustehen. Wortlos erhob sich der Wolf und trottete Richtung Tür. Nun stand sie direkt vor ihm. Gabriel konnte ihre Entschlossenheit in ihren Augen sehen, es war wie ein Feuer, dass einen ganzen Wald zu verschlingen drohte. „Es ist mein Leben, meine Zeit und mein Problem! Ich werde meine Mum finden, ganz egal ob es gefährlich wird oder nicht! Das hier ist der Weg, für den ich mich entscheide Gabriel. Du musst es nicht verstehen, nicht akzeptieren und schon gar nicht gutheißen! Es ist das was ich tun muss!“ Ihre Stimme bebte. Gabriel war noch immer von ihrem Plan wie erschlagen, doch was ihn in Wirklichkeit hatte verstummen lassen, war die überdeutliche Verzweiflung in ihren Worten. Die ganze Zeit über wollte Shana nur jemanden, der an sie glaubt und vertrauen in sie hat. Mit einem Mal fiel das ungute Gefühl wie eine zu klein gewordene Haut ab. Ohne sich noch einmal umzudrehen stieg Shana mit Faolan ein. Gabriels Herz zog sich schmerzhaft zusammen als sich die Türen langsam schlossen. Nein! Instinktiv hechtete er durch die schließenden Schiebetüren. Auf keinen Fall würde er sie alleine gehen lassen. Sie braucht dich!
Vollkommen außer Atem suchte er nach ihr, schaute in jedes Abteil hinein. Immer wieder wiederholten sich ihre Worte in seinem Kopf. Abrupt hielt er inne als er die schöne Irre dabei beobachtete ihre Tasche zu verstauen. Habʼ ich dich! Ohne Vorwarnung riss Gabriel die Türe des Abteils auf und erschreckte Shana fast zu Tode. Mit weit aufgerissenen Augen fuhr sie herum und starrte ihn an. „G-Gabriel w-was?!“ Ohne große Mühe nahm er die schwach glitzernde Spur auf ihren Wangen wahr. „Was denkst du denn was ich hier mache? Ich gehe mit dir.“ Wie angewurzelt blieb Shana stehen. Langsam setzte sich der alte Zug knackend und knirschend in Bewegung. Das Pfeifen der Druckventile klang mit einem Mal weit entfernt. „Warum?“ Nachdem sie Gabriel einfach so hatte stehen lassen, fühlte er ganz deutlich wie sehr seine Anwesenheit in ihr die gemischtesten Gefühle auslöste. „Weil ich dich unmöglich alleine gehen lassen kann.“ Er machte eine kurze Pause, ging auf sie zu und Shana schnappte nach Luft. „Ich…“ Mit einem lauten Knall fiel die Türe ins Schloss, trennte die beiden von der Außenwelt. Jetzt stand er unmittelbar vor ihr, sodass er ihren schnelleren Atem auf der Haut spüren konnte. „Niemals könnte ich mir verzeihen, wenn dir etwas zustößt. Deswegen werde ich dich auf deiner Suche beschützen.“ Sinnlich wie noch nie zuvor hauchte er die Worte und Shana blieb jeglicher Protest im Halse stecken.
Als Shana ihre stumme Zustimmung gab, setzte sich Gabriel gegenüber von ihr neben Faolan, der fast die ganze Bank einnahm, sodass Gabriel um ein bisschen Platz kämpfen musste. Das betretende Schweigen zwischen ihnen war unerträglich. Schon jetzt verfluchte sich Gabriel für seine dumme Spontanität. Diese Stille macht mich noch wahnsinnig! Wenn das die ganze Fahrt bis nach… Gabriel stockte. Wohin fuhren sie eigentlich? „Sag mal Shana, wohin fahren wir eigentlich?“ In dem Moment wich jegliche Farbe aus ihrem Gesicht, ihre Züge ließen nichts Gutes erahnen. „Also, ähm es ist so…“ Bitte nicht! „Der Zug fährt bis Aralei und…“ „Im Klartext: Du hast keinen blassen Schimmer, was?“ Stille. Wieder einmal hatte er voll ins Schwarze getroffen. Na Klasse! Genau das hatte er befürchtet. „Natürlich habe ich den! Was glaubst du denn…“ Ihre Stimme war viel zu Schrill und ließ seine Ohren klingeln. Hastig sprang er auf, führ sich dabei nervös durchs Haar. „Nein Shana, die Frage ist was glaubst du eigentlich?! Deine gottverdammte Sturheit bringt dich noch ins Grab!“ Mit einer wegwerfenden Bewegung funkelte sie ihn herausfordernd an und musterte ihn von oben bis unten. „Ich habe dich nicht gebeten mitzukommen!“ Überrascht zog er die Brauen hoch, damit hatte er nicht gerechnet. Gabriel zwang sich zur Ruhe, Brüllen brachte bei ihr nichts und obwohl er das ganz genau wusste war es für ihn unglaublich schwer sich daran zu halten. Shana war einfach viel zu begabt darin ihn zur Weißglut zu bringen. „Sei mir lieber dankbar dafür. Selbst wenn du deine Mutter finden würdest – was ich nicht glaube – wärst du die letzte, die ihr helfen könnte.“ In dem Moment hielt sie inne, mit weit aufgerissenen Augen als würden seine gepressten Worte sie erreichen. Gabriel wollte schon Aufatmen als sie auf ihn zustürmte – die Hände zu Fäusten geballt. „D-du Arsch! Du mieser Oberarsch, nein Ultraoberarsch!“ Ultraoberarsch? Es kostete ihn einiges an Zurückhaltung trotz dieser Prekären Situation nicht loszulachen.
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