Dieser geregelte Lebenslauf hat mich nie gereizt. Im Gegenteil, er hat mich abgestoßen. Denn was ich an denen sah, die ihn lebten, das wollte ich selbst nicht leben. Vielleicht lag das daran, dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin. Dort ist alles viel enger als in der Großstadt, es fehlt die Anonymität, das nicht-beobachtet-werden, das tun-können-was-ich-will.
In dieser Kleinstadt war man wer, wenn man bestimmte Dinge hatte. Und diese Dinge hatten wiederum mit Geld zu tun, viel Geld, das man verdient, wenn man diesem geregelten Lebenslauf nachgeht. Dann hatte man ein eigenes Haus und ein eigenes Auto und fuhr mehrmals im Jahr in den Urlaub.
Aber lebte man so auch sein eigenes Leben?
So jedenfalls war meine Sicht auf meine kleine Welt damals. Und diese Sicht hat mich veranlasst, mein ganz anderes Leben auszuprobieren. Ich wollte eine Alternative dazu leben, eine selbstbestimmte Biografie entwickeln. Und ich weiß, dass ich den Mut dazu habe. Aber so, wie es jetzt ist, kann es dennoch nicht weitergehen.
Mein Leben der letzten Jahre hat viel Kraft gekostet. Kaum hatte ich ein paar Monate in Berlin Geld verdient, bin ich losgezogen zum Surfen, und habe alles, restlos alles, aufgebraucht. Nie Rücklagen, nie ein festes Zuhause. Größtmögliche Freiheit eben. So langsam geht mir die Kraft dafür aus. So langsam beginnt es mich zu langweilen. Jetzt, Mitte dreißig, beginnt offensichtlich die Suche nach dem Sinn in meinem Leben.
Es muss sich etwas verändern. Ich will sesshafter werden, und trotzdem meine lebensbejahende Achtsamkeit am Leben erhalten. Ich will mehr Stetigkeit, und habe Angst vor der Langeweile, die sich darin ausbreiten könnte. Ich bin es gewohnt, Wellen unter mir zu haben, unter meinem Brett. Ich blühe auf, wenn es unruhig ist um mich herum und stürmisch und ich mich auf meinem Brett von meinem Kite durch Wellen und Sturm treiben lassen kann.
Ich habe Angst vor der Sesshaftigkeit, weil ich Angst habe auf einem Boden zu stehen, der nicht wankt.
Immer wieder musste ich raus, in fremde Länder, an neue Küsten, auf all die Meere dieses Planeten. Ich weiß nicht wie das gehen soll, einen Boden für mich zu bereiten, auf den ich mich gerne stellen mag, für lange, womöglich für immer?
Kann das ein anderer Mensch für einen tun?
Kornelia hat es versucht, meine letzte Freundin. Sie zog mir hinterher nach Berlin, hat uns eine Wohnung gesucht, wollte uns ein Nest bereiten, und eine gemeinsame Zukunft. Bevor ich in die Wohnung einzog, habe ich mich von Kornelia getrennt, und bin nach Costa Rica geflohen, zu fantastischen Wellen, und einem Leben in den Tag hinein.
Und auch die Zeiten in Berlin habe ich oft surfend verbracht. Nicht auf Wasserwellen, sondern surfend durch die Nacht. Von einem Club in den anderen, lauter Parallelwelten, ich habe mich in sie gestürzt wie in die Fluten, Nachtfluten, regellos, unberechenbar wie viele Wellen, und ich habe diese Nächte abgeritten wie ich Wellen mit dem Surfbrett abreite, gierend nach Abenteuer, sehnsüchtig nach Kick.
War das ein wahres Leben? Oder war es nicht auch nur oberflächlich, ohne Tiefgang?
Ein Surfbrett gelangt nicht in die Tiefe. Es ist dafür gemacht, auf der Oberfläche zu gleiten.
Bahnhof Tönning. Hier fährt der Zug nicht geradeaus weiter, sondern rückwärts wieder aus dem Bahnhof hinaus. Von Husum bis Tönning saß ich gegen die Fahrtrichtung, fuhr rückwärts. Jetzt fahre ich vorwärts, sitze mit Blick in Richtung dessen, was mich erwartet. Das ist für mich in dieser meiner zweifelbeladenen Zeit wahrscheinlich auch besser so. Ich würde gerne meine neue Fahrtrichtung sehen.
Die Fahrt führt durch Felder und Weiden, kaum eine Straße, geschweige denn ein Auto, ist zu sehen. Keine Häuserwände, keine Werbetafeln, keine Plakate - nur Natur. Nur.
Der Zug fährt an dem Ort namens „Welt“ vorbei. Ob sie das wird, hier, meine neue Welt?
Viktoria wird mir dabei helfen, diese Fragen zu beantworten, die ich an mich und mein Leben habe. Das immerhin, das weiß ich. Viktoria ist meine einzige wirkliche Vertraute. Sie ist ausgestiegen aus dem Lebensmodell, in das ich nie eingestiegen bin.
Und auch die See ist meine Vertraute. An ihrem Strand, der auf den ersten Blick so karg und leer erscheint, spiegelt sich für mich die ganze Vielfalt des Lebens in Muscheln und Treibgut, Wellen und Gischt, und die See fordert auf, diese Vielfalt zu leben, indem sie mit ihrer Endlosigkeit bis zum Horizont die Grenzen ignoriert, die sich der Mensch gerne selbst auferlegt.
Viktoria sagt nichts, fragt nichts. Sie lächelt leise vor sich hin, ich sehe ihr an, dass sie sich darüber freut, dass ich da bin.
Sie werkelt in ihrer Küchenecke, macht uns Abendessen aus Kartoffeln, Weißkohl und Speck. Ja, stimmt, dieser Weißkohl, es gibt ihn überall hier in rauen Mengen, hier im Weißkohlland. Sogar Kohltage feiern sie hier.
Die Einrichtung ist spartanisch in Viktorias Backhaus. Das Allernötigste befindet sich in diesem einzigen ebenerdigen Raum, aber auch wirklich nicht mehr. Ein altes klappriges Sofa. Ein einfacher Holztisch, drei Stühle daran. Eine kleine Küchen-zeile, darunter unlackierte Holzregale, in denen ein paar Lebensmittel lagern. Ein Waschbecken. Ein eintüriger Kleiderschrank, kaum breiter als ich selbst. Viel Kleidung kann darin nicht sein. Nur in einer Ecke ein Regal, mit ein paar Kisten darin, Krimskrams wahrscheinlich, den jeder so hat.
Die Wände sind leer. An den beiden Fenstern befinden sich breite Fensterbretter, auf denen liegen Muscheln, Steine, Möwenfedern und allerlei Sammelsurium vom Strand. Über diesem Raum gibt es noch den Giebel, da liegt die Matratze auf dem Boden, auf der Viktoria schläft. Viktoria scheint nicht wirklich viel eigenen Besitz zu haben.
Kaum zu glauben, dass so diese Frau lebt, die ich vor einigen Jahren im Hamburg kennengelernt habe, denke ich mir. Dass sie ihre Bedürfnisse einmal derartig herunterfahren würde, hätte ich ihr damals nicht zugetraut. Und sie auf diesen Weg zu bringen, war in dieser Intensität auch nicht mein Ansinnen damals. Aber sie hat es sich so ausgesucht.
Es zieht durch die einfachen Fensterrahmen aus Holz, das Glas darin scheint nicht sehr stark zu sein. Und überhaupt, diese unverputzten Wände!
„War es nicht sehr kalt hier im Winter, Viktoria?“ frage ich sie.
„Ja, das war es. Ich muss in diesem Jahr etwas ändern an meiner Wohnsituation, ich weiß noch nicht wie, aber es muss wärmer sein in meiner Behausung im nächsten Winter. Und du, was möchtest du verändern?“ fragt sie mich mit einem augenzwinkernden Blick über die Schulter zu mir am Holztisch sitzend.
„Vielleicht alles“, platzt es aus mir heraus.
Viktoria dreht sich um und sieht mich an: „Ich dachte mir schon, dass du deshalb hergekommen bist. Und ich staune über diese Wellenbewegungen unserer beider Leben, diese Aufs und Abs. Noch vor einigen Jahren brauchte ich deine Hilfe bei meiner Neuorientierung. Jetzt bist du hier und brauchst meine?“
„Ja, die brauche ich. Denn ich weiß nicht, wo ich anfangen soll mit dem Sortieren dessen, was war, was ich habe, und was werden soll, was ich haben will. Und wer ich überhaupt werden will, wahrscheinlich auch.“
„Lass uns erst einmal essen. Danach gehen wir mit dem Hund raus, dabei sprechen wir weiter.“
Viktorias Kohltopf ist nahrhaft und deftig, ich schlinge einige Teller davon in mich hinein. Es ist, als würde ich damit nicht nur Nahrung in mich aufnehmen, sondern auch das beruhigende Gefühl, dass eine gute Zeit vor mir liegt, die mich wieder auf die Beine und auf festen Grund stellen wird.
Es ist eine schon fast frühlingshafte Abendstimmung, als wir Richtung Dünenwald aufbrechen. Der Wind hat sich gelegt, die Vögel singen aufgeregt ihre Frühlingslieder in den Märzhimmel. Blohm, Viktorias riesiger zotteliger Hund, gibt den Weg vor, den wir gehen, und den er selbst sicherlich schon auswendig kennt. Er wirkt wie ein weiser, gebildeter älterer Herr. Schade, dass er nicht sprechen kann.
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