Allmählich entwickelte ich auch die Fähigkeit, mit der Natur zu ‚fühlen’. Meine erste Erfahrung machte ich, als ich während meiner ersten Attacke zufällig mit dem Mond in Verbindung kam. Später las ich einige Bücher von Algernon Blackwood; außerdem von Muldoon und Carrington: ‚Die Aussendung des Astralkörpers‘. Das brachte mich auf eine Idee: Muldoon ging es gesundheitlich schlecht. Wenn er durch die Krankheit geschwächt war, konnte er aus seinem Körper heraustreten. Asthma bedeutet auch eine Schwächung des Körpers. Mystiker, die Visionen haben wollen, fasten; jeder Asthmatiker, der nachts schlafen möchte, schläft mit leerem Magen. Nehmen Sie alle drei Dinge zusammen – das Asthma, die Drogen und den Hunger –, und Sie haben alle Voraussetzungen, aus Ihrem Körper herauszugehen, zumindest scheint es so zu funktionieren. Das einzige Problem war das Zurückkommen. Wenn ich ganz ehrlich bin, es hätte mir nicht sehr viel ausgemacht, nicht zurückzukommen – zumindest theoretisch, obwohl ich die ein oder zwei Male, als es riskant wurde, wie ein Besessener um mein Leben kämpfte.
Hoffentlich langweile ich Sie nicht; ich fand es damals jedenfalls sehr interessant. Aber es ist ohnehin nicht möglich, es allen Recht zu machen. Warum soll ich mir dann nicht wenigstens selbst diesen Spaß gönnen?
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3
Nun möchte ich aber weitererzählen. Ich hatte Ihnen erklärt, ich würde immer besser mit meinen Reinkarnations-Fantasien. Das ist richtig und wiederum auch nicht. Diese Fähigkeit entwickelte sich schubweise. Eine Weile passierte gar nichts, und plötzlich kam ich einen Schritt vorwärts, dann wieder eine Weile Stillstand, und dann erneut ein Schritt nach vorn.
Bei den Theosophen habe ich gelesen, die beste Möglichkeit, sich an vergangene Inkarnationen zu erinnern sei, abends im Bett zu liegen und den Tag zurückzuverfolgen. Ich habe es versucht, glaube aber nicht, dass es so funktioniert. Man denkt nicht wirklich zurück, sondern erinnert sich an eine Reihe zusammenhangloser Bilder rückwärts, was nicht dasselbe ist. Zumindest versuchte ich es. Wenn jemand eine bessere Idee hat, würde ich sie gerne erfahren. Ehrlich gesagt glaube ich, dass vieles Augenwischerei ist.
Ich war immer schon vom alten Ägypten fasziniert, und da es im Reich der Fantasie ja nichts kostet, amüsierte es mich, mir nun einzubilden, in einer vergangenen Inkarnation ein Ägypter gewesen zu sein; also eine ganz schöne Zeitspanne zwischen jetzt und damals, während ich bei den Würmern schlief – eine langweilige Beschäftigung! Und so entschied ich mich, auch ein Alchimist gewesen zu sein, der, ich brauche es eigentlich nicht zu erwähnen, den Stein der Weisen entdeckte.
Eines Sonntagabends ging ich mit der Familie zur Kirche, wie ich es gelegentlich um des lieben Friedens willen und aus geschäftlichen Gründen tue, man muss sich schließlich anpassen, wenn man in einer kleinen Stadt lebt. Ein Gastpfarrer hielt die Predigt, und das nicht schlecht. Bisher war mir nicht aufgefallen, wie wundervoll die Bibelversion von 1611 ist. Es ging um die Flucht nach Ägypten, um Gold, Weihrauch und Myrrhe, und um die Drei Heiligen Könige, die von einem Stern geleitet wurden. Ich war beeindruckt. Als ich nach Hause kam, suchte ich die Bibel, die ich bei der Taufe geschenkt bekommen und nie mehr angeschaut hatte, außer unter Zwang, und las alles nach, über Moses und die Weisheit der Ägypter, und über Daniel und die Weisheit der Babylonier.
Wir hören eine Menge über Daniel in der Löwengrube, aber wir erfahren nichts über seine offizielle Tätigkeit als Belsazar, Hauptmagier beim König von Babylon und Statthalter von Chaldäa. Auch die eigenartige Geschichte von der Schlacht im Tal der Könige, vier gegen fünf, interessierte mich – Amraphel, König von Shinar; Arioch, König von Ellasar; Chedorlaomer, König von Elam, und Tidal, König der Nationen. Ich wusste nichts über sie, aber ihre Namen waren wundervoll und spukten in meinem Kopf herum. Dann die noch eigenartigere Geschichte von Melchisedek, König von Salem, Priester des allerhöchsten Gottes, der sich aufmachte, Abraham zu suchen, der Brot und Wein brachte, nachdem der Kampf vorüber war und die Könige in den Schlammgruben versunken waren. Wer war dieser Priester eines vergessenen Kults, den Abraham verehrte? Es wird viel Aufhebens um die Helden des Alten Testaments gemacht. Im Allgemeinen finde ich sie nicht bewunderungswürdig. Aber diese hier faszinierten mich. So fügte ich eine Inkarnation in Chaldäa in den Zeiten Abrahams meiner Sammlung bei.
Dann erlitten meine Bemühungen einen Rückschlag. Auf einem Plakat entdeckte ich die Ankündigung eines Vortrags über Wiedergeburt. Veranstalter war die Loge der Theosophischen Gesellschaft am Ort; ich ging hin. Der Vortrag war gut. Am Ende der Diskussion stand eine Dame auf und verkündete: „Ich bin die wiedergeborene Hypatia!“ „Das ist nicht gut möglich“, hielt ihr der Vorsitzende entgegen, „Mrs. Besant ist es!“
Da begann die Dame zu argumentieren. Um ihre Stimme zu übertönen, hämmerte jemand auf dem Klavier herum. Ich ging bedeppert nach Hause und warf Chedorlaomer und Co. in den Papierkorb.
Eine Zeitlang mied ich die Reinkarnations-Fantasien und nahm meine früheren Versuche, mit dem Mond in Verbindung zu treten, wieder auf. Der kleine Fluss unter meinem Fenster hatte Flut, und wenn ich genau hinhörte, wusste ich, was die Flut unten an der Küste anrichtete. Direkt über unserem Garten war ein Wehr, es markierte das Ende des Tidenwassers. Wenn die Flut hoch stand, war es ruhig, war sie niedrig, gab es einen hübschen silbrigen Wasserfalleffekt. Es lag dann ein anderer Geruch, nach dem Meer, in der Luft, den ich sehr mochte, auch wenn er wahrscheinlich ungesund war. Es erstaunte den Doktor immer wieder, wieso ich, ein angeblicher Asthmatiker, so nahe am Wasser wohnen konnte, und er erklärte es sich damit, dass es sich um Salzwasser handelte. Ich aber glaube, dass mein Asthma durch das Theater mit meiner Familie ausgebrochen ist, und es wurde zum ersten Mal besser, nachdem ich die Tür hinter mir zugeschlagen hatte und in die Ställe gezogen war. Schließlich ist Asthma nicht dasselbe wie Bronchitis.
Jedenfalls mochte ich den Duft nach Seetang, der bei Niedrigwasser bis zu mir hinaufkam. Der Nebel, der aus dem Wasser der tiefen Schlucht emporstieg und nie meine Fenster erreichte, bildete eine Landschaft aus Teichen und Lagunen, vom Licht des Mondes übergossen, und die Bäume ragten heraus wie Schiffe unter vollen Segeln. Wenn die Flut sich an der Bucht zurückzog, das Salzwasser frisches Wasser zurückbrachte und bis zum Wehr hochdrückte, sodass sich die Schleusen beim Wechsel der Flut öffneten, mischte sich eine seltsame Stimme in das gurgelnde und strudelnde Wasser, wie eine unaufhörlich streitende Stimme, als ob sich Land und See in den Haaren lägen.
Oft lauschte ich dem Versuch des Landwassers, das Seewasser zurückzudrängen und erinnerte mich an das, was ich von unserem hiesigen Archäologen gelesen hatte: Dieser Teil der Welt war überschwemmtes Land gewesen. Wenn die Flut hochstand, erhoben sich die Kuppen wie Inseln aus der salzigen Marsch und den Wasserläufen im Schlamm, denn die ganze Erde hier ist Schlick, von den Hügeln in Wales herabgeschwemmt. Wenn die Seedämme bis an die Bucht gingen, wäre das Schwemmland sechs Fuß tief. Wilhelm von Oranien baute die Dämme; einmal brachen sie, und das Wasser kam hinauf bis zur Kirche. Deshalb gibt es in Dickmouth Schleusen, die sich nur bei Halbtide öffnen.
Zwischen uns und der See liegt salzige Marsch; die Stadt steht auf der ersten Anhöhe. Dahinter erhebt sich ein bewaldeter Kamm, über den die Straße führt. Wenn man in der Dämmerung nach Hause kommt, sieht man die neblige Marschlandschaft viele Meilen weit. Im Mondschein wirkt sie wie Wasser, und man könnte glauben, die See wäre erneut gekommen, das Land zu überfluten.
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