Ich krame hastig ein paar Sachen zusammen, die man braucht, wenn man die Wohnung verlässt: Portemonnaie, Wohnungsschlüssel, iPhone und Tempotücher. Damit ist man für alle Eventualitäten gerüstet. Ich brauche dringend Tapetenwechsel und vor allem will ich ein paar junge Typen sehen, das neutralisiert ein bisschen mein eigenes Alter. Ich entschließe mich in das „Fender“ zu gehen. Das Fender ist eine Musikkneipe. Sie haben dort manchmal sehr brauchbare Bands. Zwar haben die heute am Montag kein festes Programm. Ich meine, Programm haben die schon, aber kein Festgelegtes. Heute darf jeder auf die Bühne, der Musik machen kann. Na ja, das mit dem „jeder“ ist auch nicht so ernst zu nehmen. Sie werden schon eine Vorauswahl treffen, damit nicht irgendwelche Spinner und Möchtegernmusiker auf den Nerven ihrer Gäste rumtrampeln.
Leider beginnt die Musik immer erst stark nach einundzwanzig Uhr. Und jetzt ist es erst kurz nach zwanzig Uhr. Da fällt mir ein, dass ich heute außer Frühstück noch nichts zu mir genommen habe. Ich bin ohnehin im Essen sehr nachlässig. Auf dem Weg zum Fender mache ich einen Stopp bei einem „Döner-Laden“. Ich kenne den Laden schon sehr lange und ich weiß, dass sowohl die Zutaten als auch die Sauberkeit des Imbisses in Ordnung sind. Der Türke hinter dem Tresen begrüßt mich wie einen alten Bekannten. Ich kann mich gar nicht an den Typ erinnern. Ist das nun beginnende Demenz oder hat das Personal gewechselt? Wollen wir hoffen, dass es keine Demenz ist. Ich bestelle Döner mit extra scharfer Soße und nehme mir aus dem Kühlschrank eine große Flasche Bier. Fällt das schon unter den Begriff „vorglühen“? Wahrscheinlich eher nicht, das macht man wohl eher mit harten Sachen, oder?
Das Fender ist bereits gut gefüllt, lediglich ein paar Barhocker sind noch frei. Ich und vor allem meine Wirbelsäule hassen es, stundenlang auf diesen lehnelosen Folterstühlen zu sitzen. Im engeren Sinne sind es nicht einmal Stühle, oder? Da entdecke ich in einer Ecke die Möglichkeit, einen Barhocker und die Kneipenwand so miteinander zu verbinden, dass mein Rücken mir das danken kann. Ein ordentlicher Platz, zumal ich von hier aus auch die Bühne gut überblicken kann. Außerdem habe ich genügend Abstand zu den Riesen-Lautsprechern, die um die Bühne herumplatziert sind. Das ist gut für meine Gehörnerven. Ich bestelle mir ein GUINESS. Leider kriegen die das hier mit der Kühlung nicht so richtig hin. Oder ist es Absicht, weil schlecht gekühltes Bier schneller getrunken wird, damit es nicht schal wird? Na wie auch immer, ein paar Grad kühler würde mir das GUINESS wesentlich besser schmecken. Ich schaue mir die anderen Gäste an, aber niemand kann meine Augen so richtig erfreuen. Der einzige Lichtblick in dieser schummrigen Kneipe ist eine der Serviererinnen. Ich stehe zwar nicht auf blond, aber diese langen blonden Haare passen perfekt zu ihrem schwarzen Outfit. Eigentlich besteht das Mädchen nur aus schwarzen hautengen Leggins und einem knallengen schwarzen Pullover. Eine wirklich süße Figur, die da pausenlos mit Getränken und Essen an mir vorbeischießt. Das Mädchen scheint über dem Boden zu schweben. Das heißt, sie berührt beim Flitzen durch die Kneipe nur mit den Spitzen ihrer Sportschuhe den Boden.
Ich nehme das iPhone aus der Brusttasche meines Hemdes und spiele ein bisschen damit. Spielen ist vielleicht der falsche Begriff. Ich zappe durch die Nachrichten-APPS. Ich finde nichts wirklich Interessantes oder Neues. Irgendwann beginnt endlich die Musik. Die erste Gruppe, die sich auf der Bühne zusammengefunden hat, besteht aus zwei hipgekleideten Farbigen an Bass- und Leadgitarre, einem ziemlich fetten pickligen Keyboard-Spieler und einem Winzling, der kaum über das große Becken seines Schlagzeuges hinausschauen kann. Darf man eigentlich „Farbiger“ sagen oder ist das politisch inkorrekt? Ich bin ziemlich verunsichert über diese ganzen für mich neuen Begriffe wie zum Beispiel „Afro-Amerikaner“ oder „Sinti und Roma“, zumal ich bei diesen beiden Schwarzen gar nicht weiß, woher sie kommen. Gibt es eigentlich auch schwarze Sinti und Roma? Irgendwie überfordert mich das Gerede über die zeitgemäßen neuen Begrifflichkeiten. Und das Geschwätz von Alice Schwarzer, definitiv keine gut aussehende Afro-Amerikanerin, oder anderen Gender-Expertinnen und –Experten, das war aber jetzt politisch korrekt ausgedrückt, nicht wahr?, ödet mich an. Schwulenehe, Lesbenehe - wahrscheinlich sind auch diese Begriffe politisch inkorrekt. Da schreiben die Zeitungen bei der Lesbe von „ihrer Frau“ und bei dem Schwulen von „seinem Mann“. Wäre nicht Lebenspartnerin beziehungsweise Lebenspartner die ehrlichere Bezeichnung? Meinetwegen auch Lebenspartnerin oder Lebenspartner mit Versorgungsanspruch, denn darum geht es doch wohl letztendlich, oder? Was mich außerdem nervt? Die großzügige Verwendung von Possessivpronomen: meine Frau, mein Mann, meine Freundin, mein Freund… Rita hat sich immer dagegen gewehrt, verbal zu meinem Besitz erklärt zu werden. Ich habe mir deshalb abgewöhnt, Possessivpronomen im Zusammenhang mit anderen Menschen zu verwenden.
Die Musik ist etwas seltsam. Auch meine ich zusätzlich zum Schlagzeug weiteres Getrommel zu hören. Da entdecke ich etwas außerhalb meines normalen Blickwinkels rechts von der Bühne noch einen Musiker, der vor einer bemerkenswert großen Anzahl von großen und kleinen Trommeln sitzt und diese mit großem Elan bearbeitet. Der reißt allerdings mit seiner Trommelei nicht das übrige musikalische Gestammel raus und ich will diese Gruppe schon gedanklich abhaken. Aber mit dem zweiten Stück steigern sie sich überraschenderweise und dann geht es ordentlich rock- und rollmäßig zur Sache. Vielleicht war es doch nicht verkehrt, heute Abend hierher zu kommen? Die Musiker werden mit jedem Stück besser und am Ende ihres Auftritts bekommen sie ehrlichen und ernst gemeinten Applaus. Ich bestelle mir noch ein Bier und hoffe, dass die zweite Musikergruppe es ebenfalls bringt. Es ist jetzt irgendetwas nach 22 Uhr und die Kneipe füllt sich immer mehr. Ich muss mir eine Strategie ausdenken, damit ich meinen Platz auch nach dem Gang zur Toilette behalten kann. Das Beste wird sein, wenn ich die blonde Kellnerin darauf anspreche. Ich schnappe sie mir, als sie das nächste Mal von ihrer Serviertätigkeit zurückkommt. Sie grinst mich freundlich an, nachdem ich ihr von meinem Problem erzählt habe. Sie meint, das sei kein Problem, verschwindet hinter dem Tresen und kommt mit einem „Reserviert-Schild“ zurück. Das soll ich einfach auf meinen Barhocker stellen. Ich nehme mir vor, die Schlussrechnung bei ihr zu bezahlen und mich für die Freundlichkeit mit einem angemessenen Trinkgeld zu bedanken.
Die nächste Musikertruppe hat inzwischen ihre Instrumente auf die Bühne getragen. Als sie dann endlich loslegt, sehe ich zwei Gitarrenspieler, einen Akkordeonspieler und eine Sängerin. Eine merkwürdige Zusammenstellung, die eher an ein Pfadfinderkonzert als an eine Rock-and-Roll-Kneipe erinnert. Die Sängerin und die beiden Gitarrenspieler haben ganz hübsche Stimmen, aber das haben die Leute im Kirchenchor wohl auch. Die von der ersten Band aufgebaute Superstimmung ist jedenfalls schlagartig weg. Ich bestelle mir mein drittes Bier und jetzt muss ich an den Toilettengang denken. Ich platziere das „Reserviert-Schild“ auf meinem Barhocker und schlängel mich durch die im Gang stehenden Gäste zur Toilette. Beim Pinkeln lese ich die oberhalb der Pissoirs angebrachten Programmankündigungen und nehme mir vor, am kommenden Samstag noch einmal in diese Kneipe zu gehen, da dort eine Band die Hits von SMOKIE intonieren wird. SMOKIE fand ich schon damals, als die noch „en vogue“ waren, rattenscharf. Als ich von der Toilette komme, habe ich keine Chance, zu meinem Platz zurückzukehren. Im Gang stehen dicht an dicht gedrängt die Gäste und beobachten das Geschehen auf der Bühne. Meinen Platz könnte ich jetzt nur mit Brachialgewalt erreichen. Das will ich nicht.
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