»Dann auf uns, Großer. Zum Wohl!«
Ich vermeide, den Trinkspruch zu untermauern. Nur ein schlichtes „Salute“ kommt mir über die Lippen. „Salute“ klingt irgendwie weltmännisch, nicht wahr? Ich überlege, ob ich sie fragen soll, warum sie mich damals im Löwenhardt hat sitzen lassen, und wie es ihr gelungen ist, mich im Krankenhaus aufzuspüren. Auch warum sie das zweite Mal dann nicht mehr gekommen ist und warum sie heute unvermittelt hier aufkreuzt. Zu viele Fragen. Ich entscheide mich gegen die Fragerei.
»Bitte lass uns setzen.«
Mit einer Handbewegung leite ich Andrea zum Sofa. Wir schauen uns an. Irgendwie ist die Situation merkwürdig und ich weiß auch nicht, wie ich eine unverfängliche Unterhaltung beginnen soll. Nach einem Moment des Schweigens eröffnet Andrea das Gespräch.
»Heute war es schon ein bisschen wie Frühherbst. Findest Du nicht? Und das Anfang September. Ein komisches Wetter dieses Jahr, findest Du nicht auch? Verbringst Du die kommende schlechte Jahreszeit in Berlin?«
Ich schaue sie an. Was für eine Frage ist das?
»Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Vielleicht werde ich ein paar Wochen auf die Kanaren fliegen. Ich bin schon lange nicht mehr da gewesen.«
Ich denke natürlich nicht im Traum an einen Urlaub auf den Kanarischen Inseln. All die fröhlichen und meistens besoffenen Skandinavier und Engländer, auf Gran Canaria zum Beispiel, wären das Letzte, was ich mir antun würde. Aber irgendwie muss ich ja die Unterhaltung am Leben halten.
»Das ist eine gute Idee,« meint Andrea, »wann wollen wir fahren?
Das soll doch jetzt ein Witz sein, oder? Ich schaue Andrea irritiert an, sage aber nichts dazu. Andrea lässt nicht locker.
»Ich denke um Weihnachten rum wäre das keine gute Idee, aber so Mitte Januar, wenn der ganze Rummel erst einmal vorbei ist, könnten wir ein paar Wochen dort Sonne tanken. An welche Insel hast Du denn gedacht?«
Ich habe an keine Insel gedacht und ich will diese Unterhaltung auch nicht fortsetzen. Aber anstatt dies Andrea klar zu machen, sage ich rein mechanisch:
»Gran Canaria.«
Andrea ist entzückt.
»Ja, das ist eine gute Idee. Gran Canaria kenne ich noch nicht. Spielst Du eigentlich Golf?«
Was soll das nun wieder. Wie kommt sie von Gran Canaria auf Golf?
»Hin und wieder, nicht sehr erfolgreich.«
»Prima, dann bis Du mein idealer Golfpartner. Lass uns unsere Schläger mit nach Gran Canaria nehmen. Meine Freundin hat mir vor einiger Zeit ganz begeistert von einem Golfplatz dort erzählt. Soweit ich mich erinnere, heißt der Ort Polamus oder Lapomas, ach ich weiß es nicht mehr.«
Ich verzichte darauf Andrea zu verraten, dass sie wahrscheinlich Las Palomas meint. Ganz sicher, was den Namen angeht, bin ich mir allerdings nicht. Viel wichtiger für mich ist in diesem Moment die Frage, wie es Andrea gelingt, immer das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Ich werde sie jetzt fragen, was denn ihr Mann dazu sagen wird, wenn wir gemeinsam nach Gran Canaria fahren. Aber Andrea lenkt schon wieder ab.
»Hast Du keine Musik? Ich finde ein bisschen Hintergrundmusik wäre jetzt sehr schön.«
Sie wartet die Antwort nicht ab, sondern prostet mir zu und nippt an ihrem Glas.
»Schmeckt gut, das Zeug.«
»Es ist eine SANDEMANN. Ich glaube, der gehört mit zu den Besseren.«
»Na dann Prost auf die Besseren.«
Ich habe den Eindruck, dass meine Bewegungen irgendwie roboterhaft und gefühllos sind. Andrea wirft mich total aus der Bahn. Ich werfe nochmals ein kleines Stück Eis in mein Glas und schenke mir Sherry nach. Andreas hat an ihrem Drink nur genippt, und als ich zu ihr mit der Flasche komme, wehrt sie ab. Habe ich mich eigentlich zu den Gran Canaria-Plänen geäußert? Ich hoffe nicht. Im CD-Player liegt eine Van-Morrison-CD. Ich drücke die PLAY Taste und drehe danach den Lautstärkeregler ein wenig herunter. Die CD beginnt mit „Astral Weeks“. „Noch einmal geboren werden, in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit?“ Passt das Lied hierher?
»Schöne Musik. Gefällt mir,« meint Andrea, »dafür hast Du schon damals ein Händchen gehabt. Komm, setz Dich zu mir. Da drüben kann ich Dich nicht riechen.«
Ich werde Andrea jetzt sagen, dass ich mich auf die Kleine Weltlaterne gefreut habe und dass ich jetzt gehen möchte. Auch wenn ich das eigentlich nicht will, könnte sie mich ja eventuell begleiten. Dann setze ich mich zu ihr auf das Sofa und sie drückt gleich ihren Körper an meinen. Will ich das? Ich bin sehr unsicher. Am Ende bringe ich sie noch einmal in Atemnot. Andrea streichelt mir übers Haar und dann zieht sie meinen Kopf zu ihr, bis sich unsere Lippen berühren. Ich bin völlig willenlos. Ich fühle wieder ihre Zunge, schmecke ihren Mund, spüre das Kribbeln in meinem Bauch und kann das alles nicht fassen. Als sie mich kurzfristig loslässt, meint sie spöttisch:
»Du bis verspannt, Großer. Das müssen wir ändern.«
Sie ergreift meine linke Hand und führt sie zu ihrem Busen, um dann sofort wieder mit ihrer Zunge meinen Mund zu erkunden. Ich fühle mich wie ein siebzehnjähriger Teenager, der soeben von seiner wesentlich älteren Nachbarin verführt wird. Aber Andrea schmeckt gut und sie tut mir gut. Und es ist mir letztlich auch alles egal, was jetzt passiert. Nein egal ist es mir nicht. Ich finde es toll!
Eine Stunde später ist Andrea verschwunden. Sie ging so schnell, wie sie gekommen ist.
»Na, bis dann, mein Großer.« Das ist alles, was sie noch rief, bevor sie in den Hausflur entschwand. Wo nimmt dieses späte Mädchen nur diese Energie her? Diesmal hatte sie bei unserem Sex auch keine Atemnot. Im Gegenteil, sie hatte mehr Puste als ich. Ist das normal, was wir hier treiben? Ich habe in der ganzen Zeit, in der sie bei mir war, nicht ein einziges Mal an Rita gedacht und ich komme mir jetzt irgendwie treulos vor. Dabei sollte Andrea so denken, sie hat ihre Wunderkugel jetzt schon zweimal mit mir betrogen. Na ja, sagen wir eineinviertel Mal.
Die folgenden Tage gehen dahin, ohne dass ich etwas von Andrea höre. Finde ich das gut? Ich weiß es nicht. Wenn sie bei mir ist, dann fühlt sich das verdammt gut an. Ist sie fort, dann fühle ich mich irgendwie… ja wie eigentlich? Empfinde ich Schuldgefühle gegenüber ihrem Mann? Nein, ich denke nicht. Ich habe einmal geglaubt, Andrea ziemlich genau einschätzen zu können. Keine Sekunde habe ich mir damals zum Beispiel Gedanken darüber gemacht, dass sie etwas von einem anderen Kerl gewollt hätte. Sie war für mich das Paradebeispiel für ein anhängliches, zuverlässiges und sehr treues Mädchen. Eigenschaften, die ich mir nur bedingt zurechnen konnte. Sehr bedingt! Habe ich damals Andrea falsch eingeschätzt? Ich denke nicht. Aber wie passt ihr heutiges Verhalten in jenes Bild, das ich einst von ihr hatte? Ich versuche möglichst viele Einzelheiten aus unserer Zeit von damals abzurufen, um sie jetzt besser einschätzen zu können. Aber irgendwie vergrößern meine diesbezüglichen Bemühungen das Chaos in meinem Kopf. Ein Verhältnis mit einer sechzig Jahre alten Ex? Das ist schon ziemlich schräg, oder?
Ich denke an Rita. Als ich sie kennenlernte, war sie ein Knaller. Lange, dunkelbraune Haare. Große braune Augen. Sehr sinnliche Lippen. Sehr lange, schlanke Beine und wunderschöne Hände. Was will man mehr? Ich werde plötzlich sehr traurig und ich verkneife mir, die Fotobücher mit den alten Bildern rauszuholen. Dann würde bei mir das „heulende Elend“ ausbrechen und das will ich nicht. Wie war der Sex mit Rita im Vergleich zu dem Sex mit Andrea? Sind solche Vergleiche überhaupt zulässig, vor allem dann, wenn der Sex mit Rita schon so lange zurückliegt? Sex ist etwas sehr Flüchtiges. Wenn Du ihn hast, dann fühlt es sich unglaublich gut an. Nein unbeschreiblich gut! Und danach? Man kann nichts von dem Gefühl konservieren. Oder ist das vielleicht nur bei mir so? Habe ich Sehnsucht nach Andrea? Ich weiß es nicht. Irgendwie fehlt sie mir und sie hat irgendetwas in mir freigekratzt, was ich nach Ritas Tod schon aufgegeben hatte. So ein Blödsinn. Andrea ist verheiratet und ich habe mich inzwischen mit meinem Witwer-Dasein angefreundet. Ich komme doch gut zurecht, oder? Jedenfalls habe ich mich darauf eingestellt, keine neue Liebe zu suchen, bis ich mich selbst in Rauch und Asche auflöse! Allerdings muss ich zugeben, dass die Sache mit Andrea bei mir eine seltsame Unruhe auslöst. Ein Gefühl, welches ich einerseits liebe und andererseits nicht akzeptieren will. Ich nehme mir nunmehr vor, alles zu tun, um mich wieder zu erden. Genau das ist es. Ich muss wieder festen Boden unter meinen Füßen spüren.
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