Löwe setzte die Kinder auf ihre Plätze. Dann bat er die Eltern, die erste Schulstunde draußen abzuwarten. Daraufhin weinten einige Kinder, aber Löwe ging an das Pult, schlug ein Buch auf und brachte daraus das zur Situation passende Märchen vom Wolf zu Gehör, der sie alle fraß, Rotkäppchen und die Großmutter. Die meisten Kinder fingen an, sich für die Geschichte zu interessieren, Karl aber schluckte und schluckte, um den Kloß in der Kehle loszuwerden. So hörte er nur den letzten Satz, der den Sinn dieses ganzen Leidens augenfällig machen sollte: „Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben.“
Löwe holte die Eltern wieder herein, verlas die Namen der Kinder, die den Finger heben und hier rufen mussten. Danach verkündete er: „Für heute ist die Schule zu Ende. Es war euer erster Schultag. Morgen bitte pünktlich um acht. Den Stundenplan bekommt ihr später.“
Karl riss erleichtert die Tasche aus seiner Bank und rannte blindlings an der Mutter vorbei durch den Hof und das Tor auf die Straße. Jetzt schien die Sonne – April, April, der weiß nicht, was er will. Dort erwartete er die Mutter, die ein böses Gesicht machte. Sie gingen die paar Schritte bis zur Inselstraße zurück.
„Du hast dagesessen, wie ein Hase, der mit offenen Augen schläft. Sonst bist du doch nicht auf den Mund gefallen. Weißt du wenigstes, wie dein Lehrer heißt?“
Karl dachte angestrengt nach. Ohne Zweifel hatte er das Wichtigste verpasst, noch bevor die Schule richtig anfing. Er wusste nicht einmal den Namen seines Lehrers.
„Dein Lehrer heißt Löwe, sagte die Mutter, zornig über den Sohn, der sich auf einmal so blöd anstellte. „Ab morgen passt du besser auf!“
Endlich ist der Schleier über dem Geheimnis gelüftet, das Schule heißt; es ist enttäuschend. Stundenlang muss man sitzen, die Hände auf der Pultplatte gefaltet, auf die Wandtafel starren, an der runde Eier und Äpfel Zahlen verdeutlichen sollen, die gar nicht leicht in den Kopf hineingehen. Auf einer schwarzen Schiefertafel muss man mit einem Griffel Buchstaben malen, die der Lehrer Löwe mit Kreide an die große Wandtafel schreibt. Das nennt man Sütterlinschrift, und es ist eine deutsche Schrift: „Auf, ab, auf, und ein Häkchen drauf“, das I, „auf und ab, auf und ab", das ist das U, nein da muss noch ein Bogen rüber. Man sitzt unter den Kindern, die sich alle mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen bemühen. Sie werden nach einem unergründlichen System gelobt oder getadelt. Hier wird nicht die Anstrengung gewertet, sondern das Ergebnis. Und das ist etwas Neues, das gab es noch nicht im Leben des kleinen. Karl.
Daheim schnitzte er gern Holz, und es sollten Schiffe werden. „So? Das ist ein Schiff?“, fragte der Vater, „da musst du noch einen Stab als Mast hineinstellen. Wie soll denn dieses Schiff segeln können, wenn es keinen Mast hat, an dem man die Segel befestigen könnte?“ Karl setzte den Mast hinein. Nun konnte das Schiff schwimmen, nun konnte es segeln, hinaus in die Welt, die wirklich viel, viel weiter ist als die Inselstraße, die „Friedliche Einkehr“ sogar…
Anders hier. „Das soll ein A sein? Mangelhaft, sehr schlecht.“ Ja, warum soll es denn kein A sein? Es ist vielleicht nicht ganz so gerade wie das an der Tafel, aber es ist unverkennbar ein A.
Und dann kommt der Tag, an dem diese Welt, diese heile und ganze Welt, durch einen schmerzhaften Streich in zwei Teile geschlagen wird, als Strafe für das Vergehen, auf dem Schulhof Kastanien gesammelt zu haben. Der magere Lehrer Löwe schlägt mit einem Rohrstock über die Innenflächen der Hände, das gibt einen scharfen Schmerz, der sich sofort bis in das Herz ausbreitet.
In Karl ist ein großes Staunen, das weit über den körperlichen Schmerz steht: Die Schule hat offenbart, was sie wirklich ist. Karl ist zum ersten Mal in seinem Leben geschlagen worden, mit der deutlichen Absicht, ihm einen großen und schlimmen Schmerz zuzufügen. Seine Handflächen schwellen an. Er geht zurück auf seinen Platz.
„Merkt es euch endlich“, sagt der Lehrer, „Kastanien sammeln ist verboten.“
Ja, es ist verboten, aber die reifen braunen Früchte liegen auf dem Boden, jeder kann sie aufnehmen, sie gehören keinem. Es schadet auch nichts, wenn man sie aufnimmt. Nun erst steigen Karl Tränen in die Augen. Er steht auf, besinnt sich auf seine Tasche, holt sie und verschwindet durch die Tür. Er ist schon an der Treppe, als er Schritte hinter sich hört. Es ist der Lehrer, der magische Lehrer, der über die Hände schlägt.
„Sofort gehst du in die Klasse zurück“, befiehlt er. Karl bleibt störrisch stehen. Davon kann keine Rede sein, nie mehr wird er in die Klasse gehen, nie. Angesichts dieses Trotzes verliert der Lehrer jede Selbstbeherrschung. Er ohrfeigt Karl, treibt ihn vor sich her in die Klasse, bis … Karl einen Ausweg findet, ihm entwischt, zur Treppe läuft. Er ist schneller, die Angst vor diesem Lehrer gibt ihm Flügel. Er ist auf der Straße und bleibt erst stehen, als er keine Schritte mehr hinter sich hört. Die Schultasche hält er krampfhaft fest. Er weiß nicht wohin, er möchte sich gern klar werden über das Geschehene, aber sein Herz jagt in kurzen Stößen. Der Schule ist er entronnen, aber man muss doch zur Schule gehen. Dort lernt man etwas!
Was nun? In die Inselstraße. Er will nach Hause. Die Schulmappe auf dem Buckel wird beim Treppensteigen immer schwerer.
Der Vater raucht seine Schwarz-Weiß, er ist ruhig wie immer, hält ein Buch in der Hand, und Karl bedauert fast, dass er sich entschlossen hat, nicht mehr in die Schule zu gehen. Sie hätten zusammen die Bücher lesen können, die der Vater besitzt. Der merkt sofort, dass etwas nicht in 0rdnung ist. Er bringt es leicht aus Karl heraus, eine zusammenhängende Erzählung, bei der Karl weint, was doch verboten ist, weil Jungen nicht heulen dürfen. Nun ist er leer und müde. Was soll werden? Der Vater geht ohne ein Wort an den Schrank, zieht sich seinen guten Anzug an, knüpft die Schuhe zu, und sie gehen hinunter auf die Straße. Der Vater spricht nicht, sein Gesicht ist verschlossen. Wer hat in dieser Sache gefehlt? An der Hand des Vaters geht Karl durch das Tor, und er hat sich doch geschworen, nie mehr hierherzukommen.
Im Vorzimmer des Rektors gibt es einen heftigen Wortwechsel zwischen dem Vater und der Frau, die dort immer sitzt. Sie behauptet, der Rektor sei nicht da, er halte Unterricht, und sie dürfe nicht stören.“
"Hören Sie zu, Fräulein“, hört Karl den Vater sagen, und es ist ein wütendes Knurren in seiner Stimme: „Wenn Sie mir nicht innerhalb von fünf Minuten den Rektor herbeischaffen, dann gehe ich und komme mit der Polizei wieder.“
Das Fräulein druckst, weiß nicht, was es sagen soll, geht dann aber wirklich den Rektor holen. Der Weißbart kommt, sieht mit Befremden den Vater an und sagt: „Also wenn es dringend ist, aber nur zwei Minuten.“ Er ist sehr verdrossen. Karl muss im Vorzimmer bleiben. Er hört Stimmengemurmel, dann einen großen Lärm, die Stimme des Vaters. Der Rektor stürzt heraus, befiehlt dem Fräulein, den Lehrer Löwe zu holen, und etwas später sind sie alle im Zimmer des Rektors, der jetzt beherrscht hinter seinem Schreibtisch sitzt: Löwe, der Vater und er, Karl. Über ihn wird verhandelt. Er muss noch einmal den Hergang schildern, und der Rektor schüttelt den Kopf.
„Ich ersuche Sie jetzt um Ihre Stellungnahme, Herr Löwe“, sagt der Rektor. „Herr Kirchhoff ist beim Arzt gewesen und hat sich Verletzungen attestieren lassen, und es wird einen Skandal geben, wenn wir die Geschichte nicht beilegen können. Für Sie würde dabei ein Disziplinarverfahren herauskommen, sonst bliebe es an der ganzen Schule hängen.“
Herr Löwe presst die Lippen zusammen. „Meine Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung treffe ich allein“, sagt er dann. „Sie selbst, Herr Rektor, haben die Anweisung gegeben, das Kastaniensammeln zu unterlassen.“
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