Karla hatte überhaupt nicht bemerkt, wie der Sender in ihren Rucksack gekommen war. Er hatte die ganze Fahrt über von Leipzig nach Berlin auf dem Sitz neben ihr gelegen. In der Zeit war der junge Mann nicht von seinem Sitz aufgestanden. Selbst wenn er versucht hätte, etwas in der kleinen Tasche zu verstecken, wäre es ihr aufgefallen. Wenn sie während der Fahrt über geschlafen hätte, wäre es nachzuvollziehen gewesen, aber sie war wach gewesen, hatte gearbeitet. Wann hatte sich ihm die Möglichkeit geboten zuzuschlagen?
Es fiel Karla wie Schuppen von den Augen, als ihr einfiel, dass sie für fast zehn Minuten den Rucksack unbeaufsichtigt auf ihrem Sitz hatte liegenlassen. In diesem Zeitraum hatte sie mit Isis telefoniert und der junge Mann hatte zuvor versucht, sie zu belauschen. Hatte sie wenigstens geglaubt. Wahrscheinlich hatte er versucht, sie einzuschüchtern und darauf spekuliert, dass sie den Waggon wechseln würde und er somit problemlos an ihren Rucksack gehen konnte, ohne dass sie es bemerkte. Es war ihm in der Tat gelungen, sie zu überlisten. In der angehenden Wissenschaftsjournalistin baute sich Wut auf. Sie war so vorsichtig gewesen und dann hatte sie dieser Kerl einfach überlistet. Kalt und berechnend hatte er ihre Ängste ausgenutzt und den GPS-Sender in ihrer Handytasche versteckt.
Na warte, dass sollte das Arschloch büßen!
Karla schnappte sich, ohne zu überlegen, den Sender und warf ihn auf den Boden.
"Jetzt kannst du lange warten, mich zu finden", zischte sie.
Sie hob ihren Fuß an und wollte ihn auf den Gegenstand niedersausen lassen, um ihn in seine Einzelteile zu zerschmettern.
"Warte", rief Isis hilflos. In letzter Sekunde gelang es ihr, den Sender mit ihrem eigenen Fuß anzutippen, dass er einen halben Meter über den Boden schlitterte. Hoffentlich kam jetzt niemand vorbei und trat auf das Teil, dann wäre ihre Rettungsaktion vergebens gewesen.
Den Spionagegegenstand hatte sie vor der Zerstörung gerettet, ihren Fuß allerdings nicht rechtzeitig zurückziehen können. Mit voller Wucht traf sie Karlas Schuhsohle. Glücklicherweise trug diese heute Schuhe mit recht dünnen Sohlen. Höllisch weh tat es dennoch.
Schmerz schoss von ihrem Fuß das Bein hoch. Ihre Freundin hatte längst die Schmerzensstelle wieder freigegeben, da überkam Isis ein unangenehm warmer und kalter Schauer, der langsam nachließ und vollständig verschwunden war, als ihr Spann und ihre Zehen nicht mehr wehtaten. Sie japste nach Luft und musste an sich halten, um nicht laut aufzuschreien.
Herrje, tat das höllisch weh! Hoffentlich war nichts gebrochen. Nicht weiter an den Schmerz denken, war das Beste, was sie tun konnte.
Karla hatte in die schmerzgeweiteten Augen ihrer Freundin geblickt und fragte sich, woher diese die Disziplin nahm, nicht laut zu schreien. Isis überraschte sie immer wieder.
"Den Sender können wir noch gut gebrauchen", begann die Archäologin, nachdem sie den Sender vom Boden aufgehoben hatte. "Hättest du ihn in deiner unbedachten Wut zerstört, wüsste der Unbekannte sofort, dass wir sein kleines Helferlein gefunden haben. Wir müssen ihn oder sie, falls es mehrere sein sollten, weiterhin im Glauben lassen, wir hätten den Sender nicht gefunden."
"Wie willst du das anstellen" fragte Karla neugierig.
"Lass mich nur machen", erwiderte Isis. Auf ihren Lippen bildete sich ein Grinsen, das schnell wieder verschwand, als sie aufstand und das Gewicht auf ihren malträtierten Fuß setzen wollte. Dieses Mal konnte sie nicht verhindern, dass ihren Mund ein schmerzendes Stöhnen verließ.
Es war furchtbar einfach gewesen, ihren Verfolger in die Irre zu führen. In der Straßenbahn hatte die Ägyptologin den Sender in eine Ecke gelegt, wo er nicht weiter auffallen würde. Während der Gegenstand nun bis zur Endstation Potsdam fuhr, danach wieder zurück Richtung Wartenberg und so lange hin und her fahren würde bis jemand darauf kam, dass der Sender abgelegt worden war oder die S-Bahn ins Depot fuhr, stiegen Karla und sie bereits an der nächsten Station wieder aus, nahmen eine Straßenbahn in die entgegen gesetzte Richtung und fuhren erst einmal umher, um sicher zu gehen, dass ihnen niemand folgte. Erst dann war Isis tatsächlich überzeugt, dass ihnen niemand folgte, weshalb sie den Weg nehmen konnten, der sie in Oliver Waarens Wohnung brachte.
Dort befanden sie sich gegenwärtig und hatten dessen Wohnzimmer in Beschlag genommen. Vor ihnen ausgebreitet lagen die beschriebenen Seiten des unbekannten Soldaten, der unter Napoleons Kommando in Russland gewesen war.
Isis trug Baumwollhandschuhe, ebenso Karla, der sie aufgenötigt worden waren, weil diese sich uneinsichtig gezeigt hatte, warum sie welche tragen sollte.
"Wir arbeiten an einem Original, da trägt man Handschuhe. Was hat man dir in der Restaurationswerkstatt eigentlich erzählt? Also entweder, ich sehe Handschuhe an deinen Händen oder ich werte die Seiten allein aus", hatte die Archäologin ihren Standpunkt klar gemacht.
So war der angehenden Wissenschaftsjournalistin nichts anderes übrig geblieben, als dem Befehl ihrer Freundin zu folgen und sich in ihr Schicksal zu fügen. Sie schwitzte in den Handschuhen und konnte sich nicht kratzen, wenn es sie irgendwo juckte. Ihr gesamter Körper schien auf einmal unter einer Hautirritation zu leiden, die es nötig machte, sich überall zu kratzen. Es half wenig, dass dieser Zustand bald vorübergehen würde, wie Isis ihr versichert hatte.
"Der Soldat heißt Heinrich Kalditz und wurde gemeinsam mit seinem Bruder Thomas für Napoleons Grande Armée zwangsverpflichtet. Kein ungewöhnliches Schicksal zur damaligen Zeit. Wer jung und männlich war und in Napoleons Machtbereich lebte, musste als Kanonenfutter herhalten. Am Ende ging der Kaiser der Franzosen an seinem eigenen Machthunger und seiner Überheblichkeit zugrunde."
"Aber es war nicht alles schlecht", protestierte Karla. "Er hat uns von der Vielvölkerei befreit."
Isis schmunzelte über den Versprecher ihrer Freundin.
"Kleinstaaterei, richtig. Mensch, Karla, ich hätte nicht gedacht, dass du das noch weißt."
"Du unterschätzt mich halt", erwiderte ihre Freundin mit stolzgeschwellter Brust. "Ich muss einen Artikel zur Völkerschlacht schreiben. Da informiere ich mich auch über die Vorgeschichte."
"Trotzdem, dein enormer Wissenszuwachs freut mich. Vielleicht wirst du eines Tages sogar in einem Beruf arbeiten, der hauptsächlich mit geschichtlichen Themen zu tun hat."
"Ich bin Diplom-Chemikerin, das geht gar nicht."
"Der letzte Grabungsleiter des Troja-Projektes war ebenfalls Chemiker. Lass dich durch dein Studium nicht einengen." Skeptisch wurde die Archäologin von ihrer Freundin beäugt. "Sieh dich an! Du arbeitest für eine wissenschaftliche Zeitschrift, die sich mit Geschichte und Archäologie beschäftigt. Natürlich könntest du auch ins Klatschpresse-Fach wechseln, jetzt, wo du bewiesen hast, dass du schreiben kannst. Aber da du dir keine Namen merken kannst... Nee, die wüssten gar nicht, wen du mit der Brandenburger aus Berlin gemeint habe könntest."
"Amerika, wenn schon. Und du bist darauf gekommen. Nun gut", Karla winkte ab, "lass uns weitermachen."
"Das Tagebuch scheint bereits früher zu beginnen, allerdings fehlen hierzu die Seiten. Du hast nicht zufälligerweise was übersehen bei deiner Fundsicherung?"
Isis sah ihre Freundin mit Unschuldsblick an. Karla verstand die Anspielung auf den Diebstahl sofort. Anstatt mit einer zurechtgelegten Erwiderung, fing sie zu lachen an. Das Gesicht der Archäologin sah zu komisch aus.
"Ich sollte dich erwürgen", brachte sie zwischen einigen Kieksern hervor.
"Mach nur, dann wirst du nie erfahren, was ich gerade gelesen habe."
"Ich kann auch lesen."
"Aber nicht das hier, ist auf Latein verfasst."
"Und was steht dann da?", fragte Karla, nun vollkommen ernst. Latein konnte sie tatsächlich nicht.
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