Um diese Zeit in der Nacht waren alle längst zur Ruhe gegangen, und so mancher hoffte, das Tageslicht möge noch etwas ausbleiben. Die Männer auf den Mauern und Türmen der Städte und Burgen, die Wachen in den Lagern im Wald oder auf dem freien Land dösten und bemühten sich, die Augen offen zu halten. Wenn sie aber über den kommenden Tag nachdachten, und was er wohl bringen würde, überfiel die meisten die Angst.
Sie hatten den Agangafluss bereits am Vortag überquert. Die alte Brücke, von den Truppen aus Darken im Großen Krieg zerstört, war wiederaufgebaut. Auf drei Bögen spannte sie sich über den mächtigen Fluss. Sie war so breit, dass drei Pferde bequem nebeneinander auf ihr gehen konnten. Der König hatte vor Jahren den Befehl gegeben, hier die größte Brücke in ganz Centratur zu errichten. Er wollte nicht nur einen Übergang über den Fluss, sondern ein steinernes Symbol der Verbundenheit zwischen Whyten und Equan setzen.
Grosskorl trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die Hände hatte der Mann tief in die Taschen seiner pelzgefütterten Jacke gesteckt. Ihm war verdammt kalt, seine Zehen spürte er bereits nicht mehr. Langsam kroch die Taubheit weiter an seinen Beinen hoch. Obgleich er eine gestrickte Mütze trug, begannen seine Ohren zu erfrieren. Sie waren für ihn nur noch als einen dumpfen Schmerz.
Ein Nachtvogel zog als dunkler Schatten vorüber. Grosskorl zuckte bei dem unerwarteten Anblick zusammen.
Er fluchte leise: „Verdammt, ich hasse den Winter! Ausgerechnet im Winter muss ich mit diesen Verrückten durch die Gegend ziehen. Womit habe ich das verbrochen? Warum musste es mich treffen? Warum hat die Königin mich ausgewählt? Warum kann ich nicht gemütlich zu Hause in meinem Bett liegen? Sicher, diese Leute haben geholfen, Hispoltai zu retten. Aber muss man deshalb mit diesen Nomaden durch die halbe Welt ziehen? Wie lange soll dieser unsinnige Ritt eigentlich dauern?“
„Du wirst schon noch eine Weile Geduld haben müssen“, sagte eine spöttische Stimme hinter ihm. „Und wenn ich nicht so gutmütig wäre, würde ich dich jetzt mit meinem Messer kitzeln. So macht man das nämlich mit Wachen, die nicht aufpassen, sondern vor sich hin schimpfen.“
Erschrocken fuhr Grosskorl herum und fasste nach seinem Dolch, aber mit festem Griff wurde sein Handgelenk umklammert und heruntergedrückt.
„Jetzt ist es zum Kämpfen zu spät. Du solltest wenigstens so wach sein, dass du mich erkennst“, fuhr die Stimme fort. Es war Aramar, der Zauberer, der die Wache kontrollierte.
Grosskorl, ein Hüne von einem Mann, stammelte Entschuldigungen und Ausreden, die seine Geistesabwesenheit entschuldigen sollten. Der Zauberer ging nicht darauf ein, sondern wies ihn an, Feuer zu machen und die anderen Mitglieder der Reisegesellschaft zu wecken.
Zwar war es in den letzten Tagen etwas wärmer geworden, dennoch froren alle, als sie sich beim anbrechenden Morgengrauen aus den Decken schälten. Sie hatten ihre Mäntel und die dicken Wollsachen in der Nacht anbehalten, Lammfelle um sich gewickelt, und die Sängerin Galowyn durfte sogar ein warmes Pferdefell über sich ausbreiten. Einada, die junge Königin von Equan, hatte alle gut ausgestattet und ihnen so viel Ausrüstung mitgegeben, wie vier Lastpferde tragen konnten. Dennoch waren die Nächte auf dieser Reise unangenehm genug. Die Kälte drang aus dem Boden in ihre steifen Körper.
Das Feuer war heruntergebrannt und glomm nur noch. Als sich Grosskorl niederkniete, um mit trockenem Gras ein paar Flämmchen zu entfachen, stöhnte die Sängerin: „Ich bin einfach zu alt für solche Ausflüge. Was treibe ich mich hier in der Gegend herum, anstatt gemütlich in irgendeinem Palast vor einem großen Kamin zu sitzen und mir von einem Diener heißen Wein servieren zu lassen? Diese Kälte ist Gift für meine Stimme. Meine Verantwortung gegenüber allen Wesen, die Gesang lieben, gebietet mir eigentlich mich zu schonen.“
„So, du wirst alt?“ sagte ihre Dienerin, die gerade Wasser für Tee geholt hatte, zu der immer noch schönen Frau. „Das ist das erste Mal, dass ich dieses Eingeständnis aus deinem Mund höre. Bis jetzt dachte ich, du bleibst ewig jung.“
Für Smyrna war das dritte Lebensjahrzehnt ebenso wie für ihre Herrin gerade angebrochen. Sie war klein und hatte ein verschmitztes Gesicht.
Fallsta, der Goldgräber, ein hagerer Mann, der sich trotz der Kälte jeden Abend die Schuhe auszog und nun wieder hineinschlüpfte, lachte: „Jetzt reise ich mit euch beiden seit Monden und höre Tag für Tag die gleichen Sticheleien und den gleichen Streit. Werdet ihr dieses Spieles nie müde?“
„Es sind eben Frauen“, sagte Rimo, der zweite Soldat aus der Palastwache, der als Begleitung mit nach Cantrel geschickt worden war. Ein kleiner Mann mit einem schütteren Bart und Halbglatze, der jedoch größten Wert auf sein Aussehen legte und sich jeden Morgen lange bürstete. Seine Kleider waren für einen Soldaten der Palastwache recht kostbar.
„Das hat gar nichts mit Frauen zu tun“, keifte Galowyn wütend. „Das heutige Dienstpersonal taugt ganz einfach nichts und lässt es an Respekt vermissen.“
„Dienstpersonal? Dass ich nicht lache! Wie oft soll ich dir noch erklären, dass du nur dann eine Dienerin hast, wenn du sie auch bezahlst.“
Der Streit wäre sicher so wie jeden Tag noch eine Weile weitergegangen, wenn sich Aramar nicht eingemischt hätte: „Wir kommen heute in bewohnte Gebiete. Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber über der ganzen Gegend liegt etwas Bedrohliches.“
„Was meinst du damit“, fragte Fallsta.
„Es ist nur so ein Gefühl, aber wir müssen aufmerksam sein.“
Als sie sich später zum Frühstück niederließen, denn an Verpflegung fehlte es nicht, war der Goldgräber verschwunden. Man fragte verwirrt, wo er geblieben sei, und Aramar lächelte versonnen: „Er hat etwas zu erledigen. Das sollten wir respektieren.“
Alle rätselten über den Sinn dieser geheimnisvollen Worte, warteten aber geduldig auf die Rückkehr von Fallsta. Smyrna wusch inzwischen Wäsche in einem nahen Bach, und die Männer striegelten die Pferde und besserten deren Geschirr aus. Aramar hingegen verschwand zwischen den Büschen.
Die Gestalt des Zauberers veränderte sich je nach Anlass. Einmal war er ein alter Mann, der sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte, dann wieder ein hoch gewachsener Kämpfer, dem man besser aus dem Weg ging. Er trug lederne Hosen und hohe Stiefel und einen weiten, blauen Mantel. Über sein langes Haar hatte er eine lederne Kappe gestülpt. Ein prächtiger Bart verbarg die Lachfältchen in seinem Gesicht.
Erst gegen Mittag kehrte Fallsta zurück. Er war tropfnass und ließ sich aufseufzend vom Pferd gleiten. Alle eilten zu ihm und fragten, was geschehen sei.
Er habe den Fluss überqueren wollen, antwortete er. Aber er sei tiefer gewesen, als vermutet, deshalb sei er ins Wasser gefallen. Doch das sei nicht tragisch. Ein Bad habe er schon lange nehmen wollen.
Er rieb sich trocken und wechselte die Kleider. Doch auch nach einer Stunde waren seine Hände immer noch blau, und er zitterte am ganzen Körper. Aramar sah ihn mit sorgenvollen Augen an. Aber noch eine andere Veränderung war mit Fallsta vor sich gegangen. Der Goldgräber schien von einer schweren Last befreit. Er war beinahe beschwingt, und alle bemerkten, dass die Goldbeutel an seinem Gürtel fehlten, die er von seinem Ausflug im Ilgaigebirge mitgebracht hatte.
Am späten Nachmittag erreichten sie das erste Dorf. Als sie es aus der Ferne sahen, beschlossen sie, dort zu übernachten. Doch beim Näherkommen verwarfen sie den Plan wieder. Das Dorf war zu klein, um einen Namen zu haben und bestand nur aus verfallenen Hütten.
Zwei Kinder mit großen Köpfen und aufgequollenen Bäuchen liefen rasch über die Straße, und verschwanden in einem Haus, als sie die Reiter sahen. Sie waren spindeldürr und ihre Knochen nur noch von Haut umhüllt. Außer den Kindern ließ sich niemand sehen. Die Erde in den Gärten vor und hinter den Häusern war umgewühlt. Man sah kein Wintergemüse, und auch Vieh schien man in diesem Dorf nicht zu besitzen. Weder Gänse noch Hühner und schon gar keine Kuh liefen herum. Bittere Armut beherrschte diese Siedlung.
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