„Daran war Aramar sicher nicht unschuldig“, murmelte Willmar.
„Aber endlich kamen zwei Männer in leuchtenden Rüstungen. Sie erweckten den großen Ormor. Dieser belohnte sie, indem er sie aus ihrer sterblichen Hülle befreite. Dann spaltete er den Berg, und wir verließen unser Gefängnis.
Draußen warteten schon die Agenten auf uns, von denen die Befreier angeheuert worden waren. Es waren Männer aus dem fernen Land Vespucci. Ormor kannte sie und vertraut ihnen. Dann wurden Boten in alle Welt geschickt, und die Getreuen zusammengerufen. Alle kamen oder sandten Abordnungen. Man hatte den Herrn nicht vergessen. In kurzer Zeit war er so stark wie zuvor. Begeisterung und Freude begleiteten Ormors Wiederkehr. Alle unsere Freunde hatten sich lange zähneknirschend zurückhalten müssen. Man hatte sie gedemütigt und unterdrückt. Wehe den Besiegten!
Übrigens, kurz bevor Ormor der Große den Berg verlassen konnte, ertrank der anmaßende Hochkönig, dieser Meliodas, im Tessenfluss. Überall erhoben sich daraufhin Könige und Fürsten. Sie wollten die Herrschaft über Centratur oder ganz einfach nur Beute machen. Diesem Treiben hat mein Herr inzwischen ein Ende gesetzt. Er vereinigte die Heere, rief seine Orokòr aus den Tiefen der Gebirge und griff eine der mächtigsten Bastionen der Feinde an: Hispoltai, die Hauptstadt der Equaner. Zuvor aber ließ er das Heimland besetzen, um die Erits für all ihre Missetaten zu bestrafen.
Doch die Geschichte der Welt ist geprägt von verhängnisvollen Wiederholungen. Wieder einmal waren unsere Truppen siegreich. Sie belagerten Hispoltai, und die Stadt stand kurz vor dem Fall. Doch im letzten Moment wendete sich das Blatt wieder zu unseren Ungunsten, und wir mussten fliehen.“
„Aramar?“ fragte der Einsiedler mit gebrochener Stimme.
„Ja, dieser verfluchte Zauberer ist uns schon wieder in die Quere gekommen. Deshalb hat mich mein Herr zu Euch geschickt. Er meint, Ihr wärt der einzige, außer ihm selbst natürlich, der Aramar die Stirn bieten könne. Und er meint auch, Ihr hättet mit diesem teuflischen Hund noch eine Rechnung zu begleichen.“
„Mag sein“, flüsterte der alte Mann.
„Natürlich sind wir noch nicht wirklich geschlagen. Noch haben wir genügend Reserven, und in Darken sammelt sich ein riesiges Heer. Wir werden Whyten und Equan wie der Sturmwind überrennen und unterwerfen. Wir werden ganz Centratur in unsere Gewalt bekommen und uns gefügig machen. Dann werden wir unsere Macht bis an die Grenzen der Welt ausdehnen, denn das Schicksal hat uns zu den Herrschern des Kontinents bestimmt. Das Los der anderen Völker ist es, uns zu dienen. Wir erfüllen deshalb mit dem kommenden Krieg den Auftrag des Schicksals. Aber die Vorbestimmung verlangt von uns auch Opfer, und wir sind bereit sie zu bringen. Wir werden unser Leben wagen für die Vorsehung. Wir werden Leid und Entbehrungen auf uns nehmen, und wir werden kämpfen wie die Teufel. Niemand kann uns widerstehen, solange Ormor der Große uns führt. Wir werden die Erde in Brand setzen, und der Brand wird die Erde läutern. Wir werden mit Feuer und Schwert herrschen, und endlich wird Gerechtigkeit sein.“
Der Krieger hatte sich in Rage gesprochen und war in Erregung aufgesprungen. Da stand er nun in der Dunkelheit und schrie die letzten Worte.
„Wenn es das Schicksal so gut mit Euch meint, und Ihr auf der Straße des Sieges seid, wozu braucht Ihr dann mich?“ fragte Willmar spöttisch.
„Damit uns Aramar nicht mehr in die Quere kommt. Der Herr will sich von diesem Hund nicht länger tyrannisieren lassen.“
„Ihr habt all die Heere und dazu noch das Schicksal auf Eurer Seite, was kann Euch da ein alter Zauberer wie Aramar anhaben?“
Gracchu schwieg bei diesem Einwand verdutzt, griff nach seiner Tasse und nahm einen Schluck von dem nun kalten Tee. Das Gewitter war inzwischen weitergezogen. Der Donner klang nur noch schwach aus der Ferne. Auch der Regen hatte nachgelassen.
„Wir wollen zu Bett gehen“, sagte der Alte endlich. „Morgen erwartet uns ein schwerer Tag. Wir haben eine lange Reise vor uns.“
Früh am nächsten Morgen, es war noch dunkel, brachen sie auf. Willmar hatte zuvor sein Werkzeug sorgfältig in der Hütte verstaut und die Tür abgeschlossen. Dann sprach er seltsame Worte, so als wolle er die Behausung beschwören. Er nahm nichts mit außer einem Tuch, in das er verschiedene Gegenstände gewickelt hatte, die er aber seinem Begleiter nicht zeigte. Gracchu bestieg sein Pferd, und der Alte schulterte sein kleines Bündel. Der Krieger sah beim Reiten auf seinen Begleiter herunter und konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass er sich in der vergangenen Nacht vor diesem gebeugten Alten gefürchtet hatte.
Es wurde ein heller, klarer Tag. Der Himmel war nach dem Unwetter der letzten Nacht wie geputzt und die Luft wärmer geworden. Von den Tannen tropfte Nässe auf den aufgeweichten Boden. Die Natur schien aufzuatmen, dass sie alles heil überstanden hatte. Bald erkannte Gracchu, dass es mühsam war, den Gang des Pferdes dem langsamen Wanderer anzupassen, und stieg ab. Es war ein weiter Weg von den Schwarzen Bergen durch das Hochgebirge nach Westen. Die einschüchternden Gipfel begleiteten sie Tag für Tag. Nachts schliefen sie an kleinen Feuern. Sie sprachen wenig und wussten von einander, dass sie sich nicht mochten. Der Krieger verachtete den Einsiedler, Willmar hingegen langweilte der törichte Riese, der außer Kraft und Rücksichtslosigkeit nichts zu bieten hatte. Was hätte er mit diesem Kriegsmann schon reden können!
Einmal fragte Gracchu: „Was habt Ihr all die Jahre in den Bergen gemacht?“
„Ich war der Vergangenheit auf der Spur.“
„Hattet Ihr nichts Besseres zu tun? Was vergangen ist, ist vergangen! Was kümmert es uns heute noch, was einmal war?“
„Die Vergangenheit könnte Euch lehren, Eure heutigen Kriege entweder nicht zu führen oder zu gewinnen. Wenn wir nicht aus der Geschichte lernen, machen wir alle Fehler, die jemals gemacht wurden, immer wieder. Es gibt dann für uns keinen Fortschritt, weil wir immer wieder von vorn anfangen müssen.“
Der Alte sah den verständnislosen Blick seines Gefährten und lächelte. Er hatte sich gleich gedacht, dass dieser mit seiner Antwort nichts anzufangen wusste. Doch was hätte er ihm sagen sollen? Hätte er etwa von seinen Ausgrabungen erzählen sollen? Er hatte entdeckt, dass in diesen Bergen vor undenklichen Zeiten Wesen gewohnt und sogar Städte gebaut hatten. Und tausende Jahre vor ihnen war hier auch schon einmal Leben gewesen, hatten hier Leute gegessen, geschlafen, geliebt und vielleicht zu irgendwelchen Göttern gebetet. Immer wieder waren Dörfer und Städte gebaut worden, und jedes Mal hatten ihre Bewohner geglaubt, sie seien die ersten. Und von all dem Leben, das hier in längst vergangenen Zeiten geblüht hatte, wusste niemand etwas, außer Willmar der Buddler. War Vergangenheit wirklich nur ein Zwinkern im Auge Gottes?
Immer wieder, in Zeitabständen von vielen tausend Jahren waren neue Kulturen entstanden und wieder vergangen, und die Menschen der einen Kultur wussten nichts von den Menschen der anderen Kultur. Willmar schmunzelte, als er an eine Inschrift dachte, die er auf einem uralten Stein entdeckt hatte: „Wir sind die Ersten, und wir werden die Letzten sein.“
Welch ein tragischer Irrtum verbarg sich hinter diesen Worten. Er hatte die Fundamente der Häuser ausgegraben, die diese Wesen gebaut hatten. Sie bestanden aus kunstvoll behauenen Steinen, die den Äonen hatten trotzen sollen. Röhren aus Metallen, die inzwischen verrostet und kaum noch erkennbar waren, hatten die Steine durchzogen. An einer Stelle fand er Überreste von Farbe auf den Steinen, die wohl von Bildern herrühren mochten. Leben hatte hier einst geblüht und war, aus welchen Gründen auch immer, vergangen. Und selbst die Kunde von dieser Kultur war vergangen, vom Atem der Geschichte verweht. Wie Inseln schwammen die einzelnen Kulturen im Ozean der Zeit und wussten nichts voneinander. Nur die Zeitenwanderer kannten sie. Simonarum war wahrscheinlich einer von ihnen.
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