Sie schliefen noch oft auf dem harten Boden, und Akandra jetzt nicht mehr so nahe an ihren Gefährten heran. Aber zwischen ihnen beiden war unausgesprochen klar, dass Marc hier in der Pyramide die Führung übernommen hatte. Er entschied, wenn sich der Weg gabelte, welche Richtung einzuschlagen war, achtete auf Gefahren und bestimmte die Pausen. Als er jedoch einmal vor dem Einschlafen zögernd nach ihrer Brust tastete, schob sie seine Hand sanft zur Seite. Beide verloren über die Annäherung nie wieder ein Wort.
Immer wenn sie erwachten, fanden sie mit Wasser gefüllte Krüge, die sie mit sich nahmen und während der Wanderung daraus tranken. Hin und wieder lagen auch zwei Fladenbrote daneben, die sie gierig verschlangen.
Obgleich sie sich schon lange im Labyrinth der Pyramide aufhielten, warteten stets neue Überraschungen auf sie. Die Schrecken wollten kein Ende nehmen. Einmal waren es übergroße Gestalten, die den Weg versperrten, ein andermal tat sich vor ihnen eine Grube mit wimmelnden Schlangen auf. Sie hatten jedes Zeitgefühl verloren, wussten nicht mehr, wie lange sie schon unterwegs waren.
Irgendwann rief Marc einer plötzlichen Eingebung folgend aus: „Ich bin sicher, wir sind umgeben von vielen Leuten. Irgendjemand muss schließlich all die Lampen betreuen, die Feuer unterhalten und uns das Wasser hinstellen. Man treibt ein Spiel mit uns!“
Das Eritmädchen nickte, legte aber gebieterisch den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. Doch ihr Begleiter hielt sich nicht daran.
„Jetzt ist es genug“, rief er laut. „Macht ein Ende und holt uns hier heraus!“
Doch die schwersten Prüfungen warteten noch auf sie. Als sie nämlich wieder einmal einen schwarzen Gang hinter sich gebracht hatten, gelangten sie in einen wunderschönen Raum. Die Wände waren mit gewebten Teppichen behangen. Von der Decke hing ein Leuchter aus Kristall, dessen Kerzen den Raum milde beleuchteten. Darunter stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Er war gedeckt mit silbernen Schüsseln und Tellern. Es roch herrlich nach Gebratenem und Gekochtem. Die ausgehungerten Erits rannten zu der reich gedeckten Tafel, hoben die Deckeln von den Schüsseln und fanden gebratene Täubchen, Fisch und knuspriges Fleisch. Es war so verlockend, dass Akandra hier in der Pyramide die Führung übernommen den Teller hoch aufhäufte. Bevor sie jedoch den ersten Bissen zum Mund führen konnte, rief Marc: „Halt! Das kann eine Falle sein.“
Sie schüttelte missbilligend den Kopf und meinte, er sei überängstlich und würde überall Gefahren und Feinde sehen. Es fehle ihm an Größe und Mut. Nun solle er sie in Ruhe essen lassen. Er könne ihr zusehen, wie es ihr munde, wenn er freiwillig auf dieses köstliche Mahl verzichten wolle.
Für Marc waren ihre Worte wie Schlägen. Doch als sie erneut zugreifen wollte, ergriff er ihren Arm, zog sie hoch und zerrte die Schimpfende und Widerstrebende weg von dem verführerischen Tisch. Außerhalb des Lichtscheins sahen sie jetzt einen kleinen, unscheinbaren Tisch. Darauf stand der ihnen schon bekannte Krug Wasser und daneben lagen zwei Fladenbrote. Dies raffte der Erit zusammen und drängte das Mädchen aus dem Raum.
Nach einer Weile, Akandra hatte das Schimpfen inzwischen aufgegeben, bemerkte der Marc: „Dies war offensichtliche eine Falle. Wir sollten geprüft werden, ob wir Versuchungen widerstehen können.“
„Von mir aus war es eine Prüfung. Du hast auf jeden Fall versagt, denn wir sollen doch unseren Mut unter Beweis stellen.“
Der nächste Saal war weit und hoch. Dicke Säulen mussten die Decke stützen. Auf hohen eisernen Ständern waren Schalen angebracht, unter denen Kerzen brannten. Ein seltsamer Geruch hing im Raum. Schwaden von Rauch zogen durch die Luft. All dies ängstigte die Erits sehr und sie wagten sich nur zögernd vorwärts. Da erhob sich plötzlich ein riesiges Monster vor Marc, und Akandra sah von oben ein geflügeltes Untier auf sich zu schweben. Beide rissen abwehrend die Hände vor ihre Gesichter und schrien vor Schreck auf. Von allen Seiten stürmten nun Riesen mit hässlichen Fratzen auf sie ein und Dämonen griffen nach ihnen. Der Boden war auf einmal bedeckt mit allerlei ekelhaftem Gewürm. Schlangen und Insekten krochen an ihren Beinen empor, aber sie spürten keinen Biss und keinen Stich.
Entsetzt drehte Marc sich um und wollte fliehen. Nun war es Akandra, die die Nerven bewahrte. Sie hielt den Gefährten zurück und rief: „Das sind alles nur Visionen und Halluzinationen. Es besteht keine wirkliche Gefahr. Gib nicht auf! Wir müssen durch diesen Raum hindurch!“
„Ich kann nicht“, wimmerte der Junge. „Das halte ich nicht aus!“
Wie damals am Eingang in die Unterwelt, bei ihrer Reise zu den Älteren, nahm Akandra den hilflosen Marc an der Hand und zog ihn mit sich. Auch ihr war übel vor Angst, denn das, was sie als Visionen bezeichnet hatte, war gar zu real. Ihr Herz schlug bis zum Hals und ihre Zähne klapperten. Willenlos ließ sich der Erit mitziehen. Er hatte die Augen geschlossen, denn er konnte den furchtbaren Anblick nicht ertragen. Auch das Mädchen hätte gern den Blick abgewendet, aber einer musste auf den Weg achten, und diese Aufgabe übernahm sie. Je weiter sie kamen, desto grässlicher wurden die Figuren, die sie angriffen. Irgendwann war die Angst so groß, dass sie in die Knie sanken. Marc streckte sich auf dem Boden aus, verschränkte die Arme im Genick und wartete auf das Ende. Doch die tapfere Akandra gab nicht auf. Sie kroch auf den Knien weiter und zerrte ihn mit sich. Zwischen den hohen Säulen, die plötzlich lebendig wurden, wanden sie sich hindurch, sahen vor sich den Ausgang aus dem Saal, sprangen auf und rannten los und waren gerettet.
Der Zeitenwanderer
Es dauerte lange, bis ihre Herzen wieder normal schlugen und ihr Atem ruhig ging. Sie waren von Schweiß völlig durchnässt. Aber langsam lichtete sich der Nebel um ihre Köpfe. Nun endlich war es ihnen möglich, sich umzusehen. Sie saßen auf dem Boden eines kreisrunden Ganges. Die Mauer hinter ihnen war schwarz und die vor ihnen ganz aus Gold. In die schwarze Mauer waren viele der seltsamen Lampen eingelassen und brachten das Gold zum Glänzen.
Mühsam erhoben sie sich und folgten dem Gang. Als sie ihn umrundeten, fanden sie auf der entgegen gesetzten Seite einen Durchgang in den runden Innenraum. Dieses Tor war reich geschmückt und mit Ornamenten verziert. Zögernd schritten sie hindurch. Der runde Raum, den sie nun betraten, war hell erleuchtet. Auch seine Wände glänzten golden.
Mitten im Raum stand ein Stuhl aus schwarzem Ebenholz. Darauf saß eine junge Frau. Sie hatte langes, schwarzes Haar, leuchtende Augen und ein weißes, ebenmäßiges Gesicht. Ihre schmalen, langfingrigen Hände lagen unbeweglich auf den Lehnen des Stuhls. Ihr Körper war in ein goldenes Gewand gehüllt. Sie sah die beiden Eindringlinge freundlich an.
„da bist du endlich“, sagte sie mit gleichförmiger Stimme ohne Betonung. „ich habe dich erwartet.“ Es war nicht klar, wen von beiden sie ansprach.
Dann deutete sie auf zwei Schemel zu ihren Füßen und fügte hinzu: „nimm platz!“
„Wer seid Ihr“, fragte Marc voller Staunen.
„ich bin der zeitenwanderer, von dem man dir erzählt hat.“
„Ihr? Eine junge Frau?“ Akandra war fassungslos.
„so jung bin ich nicht mehr“, antwortete die Frau. „ich bin beinahe so alt wie die welt.“
„Wie heißt Ihr?“
„mein name ist inzwischen so lang, dass es wochen dauern würde, ihn auszusprechen. es genügt, wenn du mich einfach ma nennst.“
„Ich habe so viele Fragen“, sagte Marc begierig. „Darf ich sie stellen?“
„du bist zum fragen gekommen.“
„Ich wollte nicht von mir aus kommen. Man hat uns geschickt.“
„man hätte dich nicht geschickt, wenn du nicht gewollt hättest. du wusstest nur noch nicht, dass du es wolltest. doch nun frage.“
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