„Wir sind auf dem Weg nach Rutan. Meine beiden kleinen Freunde sollen den König von einer Zauberkette zu befreien“, antwortete Qumara ohne Umschweife und mit einer Offenheit, die den Erits den Atem stocken ließ.
„Da habt Ihr eine große Aufgabe vor Euch. Wie gefährlich sie ist, wisst Ihr sicher selbst. Sind die Erits genügend vorbereitet?“
„Nein“, antwortete die Zauberin, „und gerade das macht mir Sorgen. Marc und Akandra können den Vespucci keinen Widerstand leisten.“
„Der Zeitenwanderer will sie sehen. Durch ihn werden sie es lernen“, warf Aramarandu beruhigend ein.
Die Erits sahen verwirrt von einem zum andern. Hier wurde in ihrer Anwesenheit über sie gesprochen, als wären sie nicht zugegen.
„Meint Ihr, sie werden die Prüfungen aushalten?“ wandte sich Formundo wieder an Qumara.
„Ich glaube schon. Erits sind aus hartem Holz, wenngleich sie sich gern als schwach und furchtsam geben. Man muss sie fordern, dann zeigen sie ihre wahre Stärke.“
„Sie werden all ihren Mut brauchen und viel Geduld noch dazu, wenn sie in die Mysterien eingeweiht werden.“
„Ich verspreche Euch, sie werden Euch nicht enttäuschen!“
Nun wurde es Akandra zu viel.
„Ihr vergesst wohl, dass wir mit Euch zusammen an diesem Tisch sitzen. Ihr könnt mit uns reden und nicht über uns. Wer sagt Euch überhaupt, dass wir uns diesen Prüfungen unterziehen wollen?“
Niemand beachtete sie. Aramarandu fuhr fort: „Wir beginnen morgen mit den Exerzitien.“
„Dann werde ich mich auf den Weg machen“, sagte die Zauberin. „Es gibt viel zu erkunden.“
Die Erits hatten nur verstanden, dass es um sie ging, aber nicht, was von ihnen verlangt werden würde. Klar war ihnen aber geworden, Qumara würde sie verlassen. Allein der Gedanke daran ließ sie vor Angst zittern.
„Qumara bleibe bei uns“, bat Akandra flehentlich.
Marc stimmte ihre bei: „Wir brauchen dich.“
„Habt keine Angst, ihr seid nicht allein. Doch ihr habt einen Weg vor euch, den ich nicht mit euch gehen darf. Ihr müsst in Geheimnisse eingeweiht werden, und da kann ich euch nicht beistehen.“
Prüfungen
Jetzt sah die Pyramide noch höher aus, als sie die Erits vom Vortag in Erinnerung hatten. Sie war aus Quadern gebaut, von denen jeder einzelne Marc und Akandra zusammen an Größe überragte. Der weite Platz um sie herum war mit kleinen Steinen bedeckt. Weit entfernt sahen sie die Mauern dieser seltsamen Stadt und dicht an sie angeschmiegt steinerne Hütten, die Unterkünfte der Kuririri.
Akandra seufzte erleichtert: „Bin ich froh, dass ich die Sonne wieder sehe! Auf unserer Reise verbringen wir für meinen Geschmack zu viel Zeit im Dunkeln. Ich bin doch kein Maulwurf! Schon mein Vater hat die Sonne über alles geliebt. Bei Sonnenschein ließ er häufig das Essen im Freien auftragen. Auch meine Mutter war süchtig nach Licht. Doch ich, ihre Tochter, verbringe meine meiste Zeit unter der Erde oder in dunklen Gemäuern.“
Sie hatten die Nacht in der Pyramide in Mod verbracht, und als sie am nächsten Morgen erwachten, war Qumara verschwunden gewesen. Ihnen war zum Heulen zumute und es fiel ihnen schwer, sich zu beherrschen. Sie umarmten sich und hielten sich aneinander fest und so verharrten sie, bis Aramarandu auftauchte.
Der reichte ihnen gelbe Überhänge und sagte sanft: „Sie wird wiederkommen. Aber ihr werdet dann nicht mehr die gleichen sein. Euch wird nämlich ein Geschenk zuteilwerden, für das andere ihr Leben opfern würden.“
Dann brachte er sie ans Licht und begleitete sie hinaus aus der Stadt zur dritten Stadt Brokquas. Sie hieß Mad und ihre Mauern waren mit blauen Platten verkleidet. In Mad stand die größte und prächtigste Pyramide des Landes. Priester in roten Gewändern nahmen die Erits in Empfang und bevor sie sich von Aramarandu verabschieden konnten, war der verschwunden. Ihr neuer Führer stellte sich als Loromino vor und stieg mit ihnen die vielen Stufen zur Spitze der Pyramide empor. Unterwegs mussten Akandra und Marc Pausen einlegen, denn die Muskeln ihrer Beine schmerzten und zitterten. Sie rangen keuchend nach Luft, bevor sie weitergehen konnten. Ihrem Führer hingegen, obwohl weißhaarige und in hohen Jahren, schien der Aufstieg nicht das Geringste auszumachen.
Die Pyramide Schloss mit einer steinernen Kammer ab. Dort hinein wurden sie geführt. Seltsamen Lampen, wie sie die Erits noch nie gesehen hatten, erleuchteten Schriften auf der Decke, an den Wänden und auf dem Boden. Loromino erklärte die Zeichen. Bald hatten Marc und Akandra die Anfänge dieser Schrift gelernt. Der Unterricht dauerte den ganzen Tag. Manchmal brachte ein Diener, auch in roten Kleidern, einen Krug Wasser und etwas Brot. Irgendwann waren die Erits so müde, dass sie an Ort und Stelle einschliefen. Dann verließ sie ihr Lehrer. Er war aber wieder zur Stelle, wenn sie erwachten, und fuhr mit dem Unterricht fort. Als sie die Schrift endlich beherrschten, ließ Loromino sie allein mit dem Auftrag den ganzen Raum zu lesen.
Akandra protestierte. Für so etwas Unnötiges hätten sie keine Zeit. Sie müssten auf dem schnellsten Weg nach Rutan. Es gelte Centratur zu retten. Wenn ihre Aufgabe erledigt wäre, würden sie gern wiederkommen und in diesem Raum ein wenig lesen.
Dieser Raum sei ihre Aufgabe, war die einzige Antwort.
Marc hatte sich mit der Entwicklung der Dinge abgefunden. Er kniete auf dem Boden und glitt mit seinem Finger über die Schriftzeichen. Das Mädchen gab ihm einen Stoß, dass er umfiel.
„So tue doch etwas“, rief sie wütend. „Sei nicht so feige und gehorsam! Wir werden hier gegen unseren Willen festgehalten. Wir müssen uns befreien! Hilf mir, anstatt faul auf dem Boden zu sitzen!“
Doch es war schon zu spät. Die schwere Tür war zugefallen und der Raum wurde nur noch von den Flammen der seltsamen Lampen erhellt. Der Junge sah die wütende Freundin an, zuckte die Schultern und machte sich ans Weiterlesen. Erregt ging Akandra auf und ab, bis sie sich schließlich auch auf dem Boden niederließ und die Schrift zu entziffern begann.
Sie aßen und schliefen und wussten nicht mehr, wie lange sie schon in der Pyramide waren. Als sie den ersten Raum ausgelesen hatten, führte ihr Lehrer sie in den darunterliegenden. Die Räume unterschieden sich voneinander nur durch den Inhalt der Texte. Nach diesem Raum kam der nächste und danach wieder einer.
Akandra wurde immer ungeduldiger. Sie wollte nicht mehr in dunklen Kammern bei seltsamem Licht irgendwelche Geschichten von Königen und das Schicksal der Welt lesen. Sie wollte nach Rutan und ihre Mutter rächen. Ihr Sinn stand nach Abenteuern und nicht nach Schriften im Steinen.
Als sie wieder einmal in einen neuen Raum geführt wurden, fragte sie unwirsch: „Was soll das Ganze? Wer hat das alles eigentlich geschrieben?“
„Der Zeitenwanderer“, antwortete ihr Lehrer. „Die ganze Pyramide besteht aus Kammern, die der Wanderer beschrieben hat. Hier findet ihr die Weisheit von Jahrtausenden, was sage ich, die Weisheit der Welt.“
„Lebt der Zeitenwanderer noch?“ mischte sich Marc ein.
„Natürlich! Und er wird euch empfangen, wenn ihr reif dafür seid. Ihr könnt eure Mission nur mit Hilfe des Zeitenwanderers bestehen. Es ist eine große Gnade, von ihm empfangen zu werden. Aber dafür seid ihr noch nicht würdig!“
Akandra überließ das Lesen von nun an Marc. Sie hing stattdessen ihren Gedanken nach, träumte und wartete. Der Junge aber gewann Interesse an den Texten. Er begann, die Weisheit in sich aufzusaugen. Hier standen Antworten auf viele seiner Fragen. Er fand auch Antworten auf Fragen, die er noch gar nicht gedacht hatte.
Als Loromino wiederkam, fragte das Mädchen: „Seid Ihr der Zeitenwanderer?“
Der lachte und sagte: „Oh nein! Wir bunt Gewandeten sind nur seine Diener.“
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