Eines Tages führte er sie in keinen neuen Raum, sondern stellte fest: „Nun müsst euren Weg allein finden. Ich hoffe ihr habt richtig gelesen, damit ihr den Fallen und Gefahren begegnen könnt.“
Er brachte sie an den Anfang eines langen, sehr dunklen schmalen Ganges. Schob sie dort sanft hinein und blieb zurück.
Er rief ihnen noch nach: „Ihr erreicht das Ziel nur, wenn ihr den Weg erfühlt und erahnt!“
Dann war er verschwunden.
Vorsichtig setzten die beiden Erits einen Fuß vor den anderen und tasteten sich mit den Händen die Wand entlang. Als der Gang einen Knick machte, war selbst der helle Fleck hinter ihnen verschwunden.
Furcht umkrampfte ihre Herzen so wie damals, als sie die endlose Treppe zu den Älteren hinuntergestiegen waren. Akandra umklammerte den Arm von Marc so fest, dass sich ihre Nägel in sein Fleisch bohrten. Sie zitterte am ganzen Leib. Auch dem jungen Erit war es schlecht vor Angst. Aber plötzlich riss er sich zusammen und blieb stehen.
„Wieso haben wir Furcht vor der Finsternis?“ fragte er. „Wir haben doch die Dunkelheit der Treppe ausgehalten. Nacht kann uns nicht mehr schrecken!“
Seine Gestalt straffte sich und der Griff des Mädchens wurde lockerer.
Dann fuhr er nachdenklich fort: „Wir sollen Prüfungen bestehen, aber keiner hat uns gesagt, wie sie aussehen. Lediglich zum Abschied hat uns Loromino etwas nachgerufen. Er sprach vom Weg erfühlen. Ich glaube, diese Bemerkung ist wichtig.“
Er legte beide Hände an seine Stirn und konzentrierte sich. Nach einer Weile konnte er die Wände wahrnehmen, auch wenn er sie nicht sah. Vor sich im Boden spürte er etwas Dunkles, Unergründliches. Er ließ sich auf alle Viere nieder und kroch vorsichtig vorwärts. Plötzlich griffen seine Hände ins Leere. Vor ihnen tat sich ein Abgrund auf, in den sie beinahe hineingestolpert wären.
In diesem Augenblick hörte er Akandra rufen: „Marc wo bist du?“ und ihre suchenden Schritte.
Entsetzt brüllte er, sie solle sofort stehen bleiben. Sie sei in höchster Gefahr.
Das Mädchen verharrte schreckensstarr, während der Junge versuchte, einen Weg über den Abgrund zu finden. Doch seine tastenden Hände griffen überall ins Leere. Da hockte er sich in seiner Verzweiflung auf den Steinboden und nahm noch einmal seine Stirn in beide Hände. Er atmete tief und versuchte sich zu entspannen. Er brauchte eine Weile, aber dann spürte er, dass rechts an der Wand die tiefe Schwärze unterbrochen war. Als er dorthin kroch und mit den Händen nachfühlte, fand er einen Steg. Er kehrte zu seiner Freundin zurück, tastete nach ihrer Hand und führte sie sicher auf die andere Seite. Sie mussten noch zwei weitere Abgründe überwinden. Bei dem einen war der Steg auf der linken Seite und beim anderen in der Mitte.
Dann gelangten sie zu einem dicken, schweren Vorhang. Als sie ihn beiseiteschoben, schlossen sie geblendet die Augen. Der Gang war hier mit vielen kleinen Lichtern erleuchtet. Jedes der Lichter beleuchtete einen modellierten Kopf, der in einer Wandnische stand. Es waren viele tausend Lichter und viele tausend Köpfe, die sich auf wundersame Weise ihnen zuwandten. Bewegten sich die Erits, so bewegten sich auch die Köpfe. Jede dieser Skulpturen hatte ein anderes Gesicht. Da gab es welche mit Bart, und welche mit Glatze. Frauen sahen sie an und Kinder und Männer.
Zuerst prallten Akandra und Marc voller Furcht zurück. Sie erwarteten eine erneute Heimtücke. Bis sich der Junge daranmachte, diese Köpfe näher zu untersuchen. Da entdeckte er ihr Geheimnis. Sie waren als Relief in den Felsen gemeißelt und von unten mit diesen seltsamen Lampen beleuchtet.
Gerade diese Lampen, die er in den Pyramiden nun schon so oft gesehen hatte, interessierten Marc. Er machte sich daran, sie genauer zu untersuchen. Es waren kleine Glaskugeln. Aus der oberen tropfe Wasser in das darunterliegende Gefäß und dort auf kleine Steinbrocken. Dadurch entwickelte sich ein Gas, das mit heller Flamme verbrannte und seltsam roch. Es wurde durch sinnreiche Vorrichtungen in irgendwelchen Luftschächten abgezogen wurde. 3
Die modellierten Köpfe wirkten in dem Licht wie lebendig und schienen sich zu bewegen.
„Was sind das für seltsame Gesichter?“ fragte Akandra ängstlich.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht sind dies alles Gestalten, die dem Zeitenwanderer auf seinem langen Weg durch die Jahrtausende begegnet sind. Er hat sie hier verewigt. Die Personen sind zu Staub zerfallen, aber ihre Ebenbilder sehen den Wanderer noch immer an und richten sich nach ihm. Jeder dieser Köpfe wendet alle Aufmerksamkeit seinem Betrachter zu.“
„Aber es sind doch Tausende Skulpturen.“
„Der Zeitenwanderer hat sicher so oft Abschied nehmen müssen.“
Obgleich sie das Geheimnis der lebenden Köpfe im Stein entdeckt hatten, war ihnen diese Halle unheimlich und sie beeilten sich, sie rasch zu durchqueren. Doch sie waren von all den Aufregungen müde geworden. Deshalb legten sie sich in dem anschließenden Gang auf dem nackten Boden schlafen. Akandra kuschelte sich ganz nah an Marc. Sie waren so erschöpft, dass sie trotz Furcht und Erregung sogleich in einen tiefen Schlummer fielen.
Als die Erits erwachten, hatten sie großen Durst. Zwar gab es nichts zu essen, aber zum Trinken fanden neben sich einem Krug, der gefüllt mit Wasser an der Wand lehnte.
Die nächste Halle, die sie betraten, war kreisrund. In ihrer Mitte brannte ein großes Feuer. Auch sein Rauch zog auf geheimnisvolle Weise durch irgendwelche Schächte ab. Der Schein der Flammen spiegelte sich an den Wänden wieder. Dort waren Städte mit Mauern und Türmen gemalt. Prachtvolle Gebäude mit goldenen Dächern zuckten und flackerten im Lichtschein. Mal gingen sie in Flammen auf, dann wieder glänzten sie in ruhiger Pracht.
„So vergeht die Werke der Sterblichen“, sagte Marc. „Wir bauen, und das was wir bauen vergeht. Es wird ein Raub der Flammen. Ich frage mich, warum wir bauen?“
Dieses Gerede machte Akandra wütend: „Du fragst solchen törichten Unsinn nur, weil du noch nie etwas wirklich Wertvolles besessen hast und weil du es auch nie zu etwas bringen wirst.
Die Frage, warum wir Häuser bauen und unseren Besitz vermehren, ist unsinnig. Den eigenen Reichtum mehren, etwas Bleibendes schaffen und damit Ansehen gewinnen, hat einen Zweck in sich. Dies zu tun, ist in uns angelegt. Wir handeln entsprechend und stellen all unser Streben darauf ab, weil es unserer Natur entspricht. Es geht uns nicht ums Überleben, nicht darum, dass wir satt werden und es im Winter schön warm haben. Wenn dies unsere einzigen Sorgen wären, könnten wir uns die meiste Zeit des Tages unter Bäume legen und träumen. Doch dieses Faulenzen und sich nur um Essen, Trinken und Wohnen zu mühen, wäre ein schlechtes Leben. Niemand könnte es lange ertragen. Natürlich wissen wir, dass alles, was wir geschaffen haben, wieder vergeht. Aber ist das so wichtig? Nach etwas Schönem und Wertvollen zu streben ist nicht eitel. Der Sinn liegt darin, dass man etwas tut, statt es nicht zu tun.“
„Aber muss denn unser Bemühen stets darin bestehen, dass wir unseren Besitz mehren?“ fragte Marc verwundert. „Gibt es denn nichts Anderes, wonach wir streben können. Zwischen dem bauen von irgendwelchen Bauwerken, dem Anhäufen von Reichtümern, und dem Träumen unter Bäumen muss es doch noch eine andere Alternative geben?“
„Gärtner sehen dies eben anders als Grafentöchter“, antwortete Akandra schnippisch. „Alles, was ich gesagt habe, gilt natürlich nur für edle und vornehme Leute und nicht für das breite Volk.“
Sie kamen an Nischen vorbei mit Löchern im Boden, wo sie ihre Notdurft verrichten konnten, durchquerten Räume in völliger Finsternis und Hallen voller Licht. Einmal durchschnitt vor ihnen ein Lichtstrahl den Gang. Er war im Staub, der in der Luft hing, zu sehen und so hell, dass er ihnen wie eine scharfe Klinge erschien. Sie wagten es nur zögernd sich ihm zu nähern. Selbst der grelle Fleck auf dem Boden blendete ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen.
Читать дальше