Schon nach kurzer Zeit wurde es sehr ungemütlicher in der schwindelnden Höhe. Kein Dach schützte vor der Sonne und der Durst war wieder einmal kaum zu ertragen. Auch die Kinder jammerten, denn noch immer konnten sie sich nicht mit Zaubern helfen. Qumara tröstete sie vergeblich.
Am Nachmittag zogen endlich Wolken auf und verdeckten die Sonne. Dadurch wurde es zwar kühler, aber es kam auch Wind auf, und die Plattform begann zu schaukeln. Die Zauberin erkannte mit Schrecken, dass ein Gewitter bevorstand. Nach kurzer Zeit steigerte sich der Wind zum Sturm, und bald zuckten auch die ersten Blitze über den Himmel. Die Plattform schwang nun von der Wucht der Elemente gepackt so heftig hin und her, dass sich die Gefangenen kaum noch halten konnten. Sie rutschten und klammerten sich vergeblich an das Holz. Es war absehbar, wann ihr Leben ein Ende finden würde. Die Kinder und die Erits stießen Schreckensschreie aus.
Die Menge unten, die ihrem Leiden zusah, war nun vielköpfig geworden. Niemand wollte sich das grausame Schauspiel entgehen lassen. Schon peitschten die ersten Regentropfen in die Gesichter und der Sturm wurde zum Orkan. Von der Gegend war nun nichts mehr zu erblicken. Die Arbeiter hatten längst die Felder verlassen und waren zu ihren Unterständen geeilt. Um die Gefangenen wallte ein grauer Vorhang aus Regen.
Nun bekam es auch Qumara mit der Angst zu tun. Sollte ihre Mission hier wirklich ihr Ende finden? Waren alle Kämpfe, Leiden und Entbehrungen umsonst gewesen? Gab es für Rutan und Centratur keine Hoffnung mehr?
Die Kinder wimmerten nur noch. Alle klammerten sich verzweifelt aneinander, so als käme die Rettung von den Gefährten. Dennoch rutschten sie immer bedenklicher an den Rand der Plattform. Nur noch kurze Zeit und der Sturz war unvermeidlich.
Da geschah etwas Unerwartetes. Ein Mann in weiten gelben Gewändern trat aus einer Tür unterhalb der Pyramidenspitze. Er breitete die Arme weit aus und sein Mantel flatterte im Wind. Er rief den Kuririri am Fuß der Pyramide gestenreich etwas zu. Doch der Wind riss ihm die Worte vom Mund, und die Vogelgesichtigen verstanden ihn nicht. Nach ein paar vergeblichen Versuchen gab er es auf und blickte sich um. Da sah er die Leiter, mit der man die Gefangenen auf die Plattform gehievt hatte. Sie lag gleich neben dem Stamm, der die Plattform trug. Während der Sturm an ihm zerrte, hob er sie auf und stemmte sie mit all seiner Kraft nach oben. Der Mann und die Leiter taumelten. Immer wieder drohte sie dem Mann zu entgleiten. Endlich gelang es ihm mit letzter Kraft die Leiter gegen die Plattform zu lehnen. Dann bedeutete er den Fremden, sie sollten herunterklettern.
Zuerst wagte sich Akandra an den schwankenden Abstieg. Der Mann stemmte sich von unten gegen die Leiter, so dass sie nicht fiel. Nach kurzer Zeit hatte das Eritmädchen den festen Stein der Pyramide erreicht. Dann kam die Zauberin, die vor den Kindern kletterte, um sie aufzufangen, falls sie ausrutschen sollten. Die Vorsichtsmaßnahme war unnötig gewesen, denn die Kinder kletterten wie Affen. Alle drei kamen ohne Gefahr unten an.
Der Mann war schon alt und die Aktion hatte ihn so angestrengt, dass er taumelte. Nun stand ihm die Zauberin bei, um auch Marc zu retten. Aber der Sturm war inzwischen so stark, dass die Plattform in weitem Radius hin und her schwang. Marc versuchte verzweifelt sich fest zu klammern. Er hing mit dem Unterkörper über die Kante und angelte mit den Füßen nach der hin und her gleitenden Leiter. Doch er konnte die Sprossen nicht erreichen, so sehr er sich auch mühte. Gleich würde er in die Tiefe fallen.
Seine Gefährtinnen riefen ihm gute Ratschläge zu, die er aber bei dem Wind nicht hörte. Er war ganz weiß im Gesicht und hatte große Angst. Immer wieder tastete er nach den Sprossen. Der Regen klatschte gegen das Holz der Plattform und sie wurde immer rutschiger. Seine krampfenden Hände fanden keinen Halt mehr. Das Podest schwang nun so stark, dass er in den nächsten Sekunden heruntergeschleudert werden würde. Die Leiter war kaum noch zu halten. Da legte Akandra die Hände als Schalltrichter vor den Mund und rief: „Marc, du musst fliegen!“
Aber der starrte sie nur ängstlich und verständnislos an. Endlich packte ihn der Mut der Verzweiflung. Er schwang sich vollends über die Kante und ließ sich fallen. Dabei bekam er die Leiter zu fassen, klammerte sich an ihr fest und stieg die Sprossen herab. In diesem Augenblick konnten Qumara und der Mann die Leiter nicht länger halten. Der Sturm riss sie ihnen aus den Händen, sie entglitt ihnen, stand einen Moment ohne jeden Halt aufrecht und neigte sich dann nach hinten. Marc war noch immer etliche Fuß vom sicheren Boden entfernt. Nun kippte die Leiter vollends und fiel, und mit ihr fiel auch der Erit. Da umhüllte ihn ein schwacher Lichtschimmer, sein Fall verlangsamte sich, und er schwebte zu Boden. Vor den Füßen der staunenden Gefährten blieb er einen Augenblick benommen liegen, erhob sich dann ächzend und schüttelte den Kopf. Die Leiter aber fiel in die Tiefe von Steinkante zu Steinkante und zerschellte völlig in ihre Einzelteile. So wäre es auch Marc ergangen.
Der alte Mann ließ den Geretteten keine Zeit zum Überlegen. Während die Blitze ringsum einschlugen, zog er sie zu einer Steintür, stieß sie hinein und verschloss den Eingang. Mit einem Schlag war das Gewitter ausgesperrt und Ruhe umgab sie. Alle waren nass bis auf die Haut, die Haare zerzaust und die Kleider klebten am Leib. Der Mann zog aus einem Ring in der Wand eine Fackel, zündete sie an und stieg eine schmale, steile Treppe hinunter. Den anderen blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. Sie besaßen außer ihren Kleidern nichts mehr. Selbst ihre Waffen hatten sie verloren. Hilflos waren sie jedem Feind ausgeliefert.
Die Kuririri
Eine schier endlose Zeit kletterten sie über steinerne Treppen. Der Mann lief und stieg ohne Halt und schien dabei die gesamte Pyramide zu durchqueren. Manchmal kamen sie an Kreuzungen, von denen Quergänge abzweigten. Es war ein verwirrendes Labyrinth, aber ihr Führer kannte den Weg und zögerte kein einziges Mal. Endlich, sie mochten schon unter dem Fundament des Bauwerks angekommen sein, bog er ab. Am Ende des Ganges öffnete sich ein großer Raum. Seine Wände waren mit bunten Teppichen und Tüchern behangen, und auch der Boden war mit weichen Matten bedeckt. Bequeme Möbel standen überall.
Dort legten sie die nassen Kleider ab und hüllten sich in weiche, trockene Tücher. Dann ließen sie sich auf einen Wink ihres Retters erschöpft auf die Lager sinken. Nun erst fanden sie Gelegenheit den Mann ohne seinen gelben Überwurf genauer zu betrachten. Er hatte gelbe, faltige Haut und war schon recht alt. Sein Kopf war kahl und seine Gesichtszüge freundlich. Sie mochten ihren Retter auf Anhieb.
Als er bemerkte, dass seine Gäste ihn betrachteten, sprach er rasch und eindringlich auf sie ein, aber sie verstanden kein Wort. Qumara versuchte vergeblich, ihm in verschiedenen Sprachen zu antworten. Nachdem sie eine Weile an einander vorbeigeredet hatten, rief Marc ungeduldig: „Es muss doch eine Möglichkeit geben, uns zu verständigen. Wir haben so viel gemeinsam, Arme, Kopf, Hände. Warum ist dann unsere Sprache so verschieden?“
Der Alte sah ihn erstaunt an und sagte: „Auf das Naheliegende kommt man doch immer zuletzt. Ihr sprecht die gemeinsame Sprache von Centratur? Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt?“
Qumara ging ergriff seine Hand und sagte: „Ihr habt uns im letzten Augenblick gerettet. Habt Dank! Das war knapp!“
„Leider erfuhr ich erst sehr spät, dass Euch die Kuririri zum Schautod verurteilt hatten. Das machen sie zu gern mit Fremden. Es ist für sie eine willkommene Abwechslung, dem Todeskampf zuzusehen. Alte Gewohnheiten brechen bei diesem Volk eben immer wieder durch.“
„Alte Gewohnheiten?“ Die Zauberin war erstaunt.
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