Hermann Gunderts Jugendfreund Hermann Kurz, der Autor von „Schillers Heimatjahre“ und „Der Sonnenwirt“ (ein revolutionärer Roman über den Ebersbacher Verbrecher aus verlorener Ehre, Friedrich Schwan), wurde 1813 in Reutlingen als Sohn eines Kaufmanns geboren und starb 1873 in Tübingen als Universitätsbliothekar. Peter Härtling schrieb 1980 in seinem Vorwort zu einer Wiederauflage des fast vergessenen Romans „Der Sonnenwirt“: „An Kurz kann man, wie kaum an einem andern, das Scheitern der Achtundvierziger erläutern, ihren verzögerten Mut, ihre Ängste, vor allem aber den Widerstand auf den sie stießen, das hemmende, retardierende Element in allen deutschen Revolutionen, diese Beharrlichkeit, die vorhandene Miserabilität ertragen zu wollen und der erhofften Veränderung zu misstrauen“.
Das war typisch für das ganze, unentschieden schwankende geistige Klima, dem Gundert in Tübingen begegnete. Im Schiller-Nationalmuseum zu Marbach hängt ein Bild, das Hermann Kurz mit Kollegen des „Schwäbischen Dichterkreises“ bei einem Ausflug nach Weinsberg zeigt. Graf Alexander von Württemberg gehörte dazu, Justinus Kerner, Nikolaus Lenau, Gustav Schwab und Ludwig Uhland. Dieser Kurz war ein unruhiger Geist, aufgeschlossen für alles Neue, hochbegabt, sensibel, kritisch – und unglücklich. Er gab die theologische Laufbahn auf, aber noch radikaler und ungeschützter als etwa Hegel oder Hölderlin, die sich erst einmal als Hauslehrer ein Auskommen suchten. Kurz ließ sich gleich in Stuttgart als „freier Schiftsteller“ nieder und litt von da an den größten Teil seines Lebens materialle Not. Als Redakteur eines Familienblattes in Karlsruhe und später der radikal demokratischen Zeitschrift „Der Beobachter“ engagierte er sich politisch für die Revolution von 1848 und saß dafür einige Monate in Festungshaft auf dem Asperg. Diese wenigen Stichworte zeigen schon, welche Einflüsse von seinem Jugendfreund Kurz auf Gundert gewirkt haben müssen.
Hermann beginnt das Jahr 1828 in Maulbronn mit Hingabe an die weltlichen Musen. Er deklamiert, schauspielert, dichtet und „schöngeistert“, kurz: Er entdeckt die Welt der Literatur. Der Vater ermahnt ihn mit dem Verweis, er könne sich auf Gottes Erdboden nichts Elenderes denken als einen Schauspieler. Sogar ein Holzhauer stehe in seinen Augen sehr viel höher. Das Verhältnis Hermanns zu den Eltern kühlt ab. Die nächsten Jahre vergehen in einem ständigen Wechsel zwischen Ausbruch und Flucht aus der Enge des pietistischen Elternhauses einerseits und Phasen reuevoller Umkehr andererseits.
Im Herbst 1829 kommt es zu einer Krise. Hermann hat gute Zeugnisse, will aber die Welt genießen und an ihr Anteil nehmen, während dem Vater die Welt doch gar nichts bedeutet. Der Sohn findet am Maulbronner Studiengang einiges auszusetzen und will sich auf seine Lieblingsfächer beschränken. Er trägt sich mit dem Gedanken, das Seminar zu verlassen und auf einem staatlichen Gymnasium in Stuttgart weiterzulernen, damit er sich freier bewegen könne. Natürlich verbot ihm der Vater diesen Schritt. Hermann beschäftigte sich unterdessen immer mehr mit neuer Geschichte und Politik. In gewissen Grenzen kam ihm dabei der Kontakt zum Dürrmenzer Pfarrhaus entgegen. Bei dem freundlichen, aufgeschlossenen Pfarrer Kern und dessen Vikar Christoph Blumhardt (dem Älteren) fand er Verständnis und Freundschaft, konnte Bücher und Musikalien ausleihen. Immerhin wirkten die beiden Geistlichen auch mäßigend auf Hermann. Seine Teilnahme am Stammtisch mit den schöngeistigen Kameraden gab zu zum Beispiel aus Rücksicht auf den Geldbeutel der Eltern und unter dem Einfluss des Dürrmenzer Pfarrhauses wieder auf. Im März 1830 hat Hermann einen Unfall. Ein Schulkamerad verletzt ihn versehentlich bei einer Neckerei mit dem Federmesser, und die Familie spricht natürlich prompt von einer „Todesmahnung“.
Nachhaltiger als dieser Schreck wirkt die Säkularfeier der Augsburger Konfession. Hermann vertieft sich aus gegebenem Anlass in die Geschichte der Reformation und seiner Glaubensgemeinschaft. Im Winter 1830/31 wird der Vater schwer krank. Hermann wacht vierzehn Tage an seinem Bett und vertritt ihn anschließend mit außerordentlicher Erlaubnis im Bibelhaus. Daneben liefert er die ersten Übersetzungen aus dem Englischen für die „Missionsnachrichten“: eine Versöhnung zwischen seinen Neigungen und der väterlichen Welt, auch ein ersten Kontakt mit dem Umfeld und Gedankengut der Mission. Durch Notenabschreiben und Privatstunden verdient sich Hermann etwas Geld. Das will er, zusammen mit dem Taschengeld, das die Seminaristen vom Staat erhalten, den Eltern zur Unterstützung geben (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war damals noch nicht üblich). Die Eltern sind gerührt, lehnen aber ab.
Anfang 1831 politisiert sich Hermanns Leben jedoch wie nie zuvor. Johannes Hesse berichtet: „Ein alter Buchdrucker des Vaters (namens Carl Burkhardt) hatte sich in Vaihingen an der Enz niedergelassen und fing jetzt an, ein Intelligenzblatt für die Oberämter Vaihingen und Maulbronn herauszugeben. Vor allem die Maulbronner Seminaristen waren um Beiträge gebeten. Der Vater warnte, aber der Kitzel war zu stark, und das Blatt begann mit politischen Aufsätzen aus Hermanns gewandter Feder. Auch andere Seminaristen beteiligten sich, bis sich das Oberamt dreinlegte. Hermann aber lebte jetzt in den Zeitungen“.
Europa ist in Aufruhr. In Paris hatte die Juli-Revolution statgefunden, in der Schweiz gab es Unruhen, auch in Stuttgart wurden „Aufruhrplakate“ gefunden, sogar der Fakor in der Bibeldruckefrei hatte im Wirtshaus öffentlich auf die Regierung geschimpft. Hermann träumt von einem neuen Polen im Bund mit einem freien, vereinten Deutschland. Nationale und liberale Gedanken treiben ihn um, während der Vater schreibt: „Ich weiß nicht, wie ich dem Ding von Aufruhrdämon einen Namen schöpfen soll, es ist so dumm und so fad. Revolutionen haben einen Sinn, aber dieses Gewusel durch ganz Deutschland kommt mir vor wie Pulverfrösche, die bald da, bald dort aufknallen, und dann ist´s basta“. Nur der Gedanke, dass es in Württemberg auch eine Geheimpolizei geben soll, gefällt ihm nicht. (Da war er weiter als SPD-Minister im 21. Jahrhundert, die noch 2014 nichts dabei finden, einen Verfassungsschutz und eine politische Abteilung Staatsschutz beim Landeskriminalamt zu haben.) Das Christentum betrachtet Hermann zu dieser Zeit als eine überholte Stufe seiner Entwicklung. Ästhetik, Geschichte und Sprachen sind ihm wichtiger.
Das letzte Maulbronner Semester brachte einen handfesten Krach und eine Begegnung mit Folgen. Einer der Professoren war in einem Zeitungsartikel als verantwortlich für Mißstände im Seminar kritisiert worden und gab die Schuld daran den Seminaristen. In „Christianens Denkmal“ berichtet Hermann wenige Jahre später darüber in der dritten Person: „Hermann, der gerade Lektor war, hatte ihm darauf die Erklärung der Promotion (Anm. des Autors: des Jahrgangs) zu überbringen, der Verfasser sei nicht unter ihr zu suchen; hatte, als der Professor dieselbe zerriss, den ganzen Vorfall dem Ephorus zu melden. Hiedurch wurden Verwicklungen herbeigeführt, die mit dem Rücktritt des Lehrers endeten“. Statt des Zurückgretenen übernimmt nun der 23jährige Repetent David Friedrich Strauß den Unterricht in Latein, Geschichte und Hebräisch. Er begeistert die jungen Leute durch seinen wachen Geist, seine Klarheit und seine Liebenswürdigkeit. Hermann verschlingt Goethe und freut sich auf die Universität. Die Schlussexamina bereiten ihm nicht die geringste Mühe.
Strauß geht ein halbes Jahr nach Berlin, um Hegel zu sehen und zu hören, den wichtigsten deutschen Vertreter der Naturphilosophie und des Idealismus. Als Hermann Gundert im Herbst 1831 in das theologische Stift Tübingen eintritt, treffen er und seine Freunde Kurz und Zeller ihren Lieblingslehrer dort als Repetenten wieder – feuriger denn je und voll von Hegel. Die übrigen Professoren wirken eher langweilig auf die Studenten; ihre Frömmigkeit ist kein Ersatz für Logik und intellektuelle Brillanz. Hermann schreibt nach Hause: „Ich höre Uhland zweimal und Haug zweimal; vielleicht liest aber unser neuer Strauß noch Metaphysik, und den höre ich gar zu gern und öfter. Strauß wird ein Licht. Ich habe ihn besucht. Dem ist´s darum zu tun, Klarheit in die Köpfe zu bringen. O Strauß, bring Salz in das faule Leben! Gestern hat er eine sehr schöne Predigt getan und dem Volke wieder einmal was Neues zum Schwätzen gegeben. Es ist ganz unglaublich, wie ganz Tübingen von dieser Philosophie angesteckt ist...“.
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