Die Überraschung kam nach ungefähr einem Monat: Ziemlich schnell hatten sie eine Klassenarbeit in Deutsch geschrieben, Bruno hatte in seiner gewohnten Art eine Geschichte erzählt. Er bekam eine 5! Bruno verstand die Welt nicht mehr. Warum denn so schlecht? Und kurz darauf bekam er die erste Arbeit in Mathematik, wie jetzt das Rechnen hieß, zurück. Eine 5! Bruno war verzweifelt. Seine Eltern wussten ebenfalls keinen Rat. Sie fuhren zum Klassenlehrer nach Hermstadt, der zuckte die Achseln: „Ja, ich weiß, welche Zensuren Ihr Sohn in der Volksschule hatte, aber hier jedenfalls reichen seine Leistungen keinesfalls aus.“
Das Herbstzeugnis war verheerend. Lauter fünfen, mal mit einer vier dazwischen. Wenn Bruno so weiter machte, blieb er zu Ostern sitzen, und zwar gleich in der ersten Gymnasialklasse. Das kam nicht in Frage. Bruno wusste bis heute nicht, wie und was die Eltern gedeichselt hatten. Jedenfalls aber hieß es kurz nach den Herbstferien: „Bruno geht zurück zur Volksschule, er war zu jung für das Gymnasium, deshalb war er krank und kam nicht mit.“ Er würde den Rest der Klasse in der Volksschule besuchen und dann, nach einem halben Jahr, es noch mal versuchen.
Bruno erinnerte sich noch wie heute an den ersten Schultag nach der Zurückversetzung. Er hatte mit nichts gerechnet, fand normal, dass er in seine alte Klasse zurückkam. Nicht so seine Mitschüler. Sie standen in der Klasse, als er hereinkam, deuteten mit den Fingern auf ihn und schrien: „Ahhhhh! Da isser wieder! Hats nicht geschafft aufe Oberschule! Ahhhh!“ Das ging so lange, bis Fräulein Blume hereinkam und dem Treiben ein Ende setzte. Sowohl Bruno als auch seine Mitschüler gewöhnten sich schnell wieder an die neue Situation, Bruno bekam erneut nur gute Noten, seine Mitschüler und Fräulein Blume achteten ihn wieder und für eine Zeit war die Welt wieder in Ordnung.
12.
Als das Schuljahr vorbei war, ging Bruno wieder auf das Gymnasium. Die Lesart war nicht etwa, Bruno habe es nicht geschafft, sondern, er sei zu jung gewesen, deshalb krank geworden und nun, ein Jahr älter, könne er es schaffen. Eine gewagte Hypothese, von der Bruno aber erst sehr viel später erfahren hatte. Hätte er sie damals gekannt, wer weiß, vielleicht hätte der Leistungsdruck ihn erneut scheitern lassen, er hätte nicht weiter lernen können, er hätte . . . Bruno dachte auch im Alter diese Hätte’s nicht weiter, es kam anders und damit Schluss.
In der ersten Zeit war das noch anders in der Schule in Hermstadt, aufregend, neue Klassenkameraden, neue Anforderungen. Nach einem Jahr wusste er, sein Verstand und sein Fleiß reichten aus: Jetzt galt es, 8 lange Jahre zu der gleichen Schule zu gehen, den gleichen Tagesablauf zu absolvieren, anstrengende und leichte Tage hinter sich zu bringen, Schularbeiten machen, Zug fahren, mit den Klassenkameraden reden, Lehrern antworten, Hausaufgaben machen, Ausreden erfinden, wenn man sie nicht gemacht hatte und der Mutter Krankheit vorzutäuschen, wenn man absolut nicht zur Schule gehen wollte, acht lange Jahre.
13.
Bruno kam nach Hause. Er hatte in dem einzigen Kino in Neuburgheim, das nur mittwochs und freitags Programm hatte, einen Film aus dem zweiten Weltkrieg gesehen. Heldenverehrung der Kämpfer, Grausamkeiten. Bruno war mit seinen zwölf Jahren tief bewegt. Seine Eltern saßen ausnahmsweise einträchtig beim Kaffee. Bruno fing an, ihnen seine Gedanken zu dem Film zu erzählen. „Gelernt habe ich“, so erklärte er ihnen, „dass Gott will, dass die Menschen friedlich miteinander leben, aber die Menschen gehorchen ihm nicht. Deshalb gibt es Kriege.“ Seine Eltern sahen sich an, schwiegen einen kleinen Moment und brachen dann in lautes, belustigtes Gelächter aus ob der Weisheiten, die ihr ältester Sohn ihnen da unterbreitete. Bruno sah sie schweigend an und ging dann wortlos hinaus. Von diesem Moment traute Bruno seinen Eltern nicht mehr. Nie mehr vertraute er ihnen seine geheimen Gedanken an. Er wurde still, verschlossen, freundlich, skeptisch.
Jetzt, in der Erinnerung, wusste Bruno, dass diese Reaktion seiner Eltern seine Kommunikationsmethoden der nächsten Jahrzehnte geprägt hatten. Mit seinem besten Schulfreund, Hans Rink, redete er nie ernsthaft. Immer und alles wurde bespöttelt. So wusste Bruno heute noch nicht, was Hans eigentlich damals gedacht, übrigens auch nicht, was er selbst gedacht hat. Wollte er einen Gedanken zum Ausdruck bringen, brachte er ihn spottend vor, immer gewahr, dass der andere ihn auslachte, um dann sagen zu können „siehst du, deshalb habe ich diesen Gedanken spottend vorgebracht, ich meinte ihn selbst nicht ernst“.
Nichts im ernsten Ton diskutieren, nicht einmal mit Schulfreunden oder später mit befreundeten Kollegen, noch mit dreißig Jahren pflegte Bruno diese Art der Kommunikation, und behielt sich bei jedem Gedanken den Rückzug vor.
Und seine Freunde machten sich ebenso lustig. Es war eine logische Konsequenz, dass derjenige, der den Gedanken von Bruno spöttelnd serviert bekam, ihn auch spöttelnd zurückgab; und Bruno nahm an, dass genau das eingetreten war, was er befürchtet hatte: der andere mache sich über ihn lustig. Da nahm Bruno im nächsten Satz seine Gedanken wieder zurück. Für ernsthaft an Bruno interessierte Menschen war dies eine kaum zu überwindende Barriere.
Zwei Jahre nach dem Kinobesuch nahm sein Vater ihn beiseite:
„Bruno!“, sagte er, „du bist mein ältester Sohn. Du wirst nach meinem Tode einmal der Erbe meines Rittergutes werden. Es ist an der Zeit, dass du dich mit diesen Gütern vertraut machst und damit, was wir als erstes machen, wenn wir die Ostgebiete zurückbekommen.“
Bruno war verblüfft. Aus Erzählungen wusste er von den Gütern seines Vaters in den Ostgebieten, jenseits der Oder-Neiße-Linie. Dass sein Vater aber so gewiss damit rechnete, diese Güter zurück zu bekommen, hatte Bruno nicht geahnt. Er selbst war in Neuburgheim in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass er in einer armen Familie lebte. Er wusste, wie seine Eltern um die Höhe des Haushaltsgeldes stritten, weil nicht genug da war. Das war sein Leben. Dass es einmal anders werden könnte, hatte er sich nie vorgestellt. Er hörte morgendlich Nachrichten und darin von Eisenhower und Stalin sprechen. Adenauer war fest auf der Seite des Westens, wie sollten da die Ostgebiete jemals wieder deutsch werden? Alle hielten das für eine Illusion, und hier kam sein Vater, versprach ihm das Erbe des Rittergutes und wollte mit ihm den Wiederaufbau diskutieren.
Bruno sagte nichts. Sein Vater rollte eine riesige Generalstabskarte des Rittergutes aus. Er hatte schon vorgearbeitet. Riesige grün umrandete Areale waren, wie sein Vater erklärte, die Forsten der Güter, die Ackerbauflächen waren rot umrandet.
„Wir können natürlich nicht alles von Anfang an bewirtschaften“, sagte sein Vater, „sondern erst einmal einen kleinen Teil. Hierfür brauchen wir einen von den modernen Mähdreschern, die du sicher schon gesehen hast.“
Bruno hatte sie gesehen. Früher waren der Bauer und alle Knechte mit ihren Sensen gekommen, hatten das Korn geschnitten und zu Garben aufgestellt, um es trocknen zu lassen. Wenn die Garben trocken waren, wurden sie auf hohe Wagen gestakt und zum Dreschen auf den Bauernhof gefahren. Diese Art der Ernte war vor einigen Jahren von Mähdreschern abgelöst worden, riesigen Maschinen, die das Korn selbst schnitten, dann in ihrem Inneren verarbeiteten und schließlich aus einem gigantischen Speirohr das fertig gedroschene Korn auf nebenher gezogene Anhänger warfen.
„Aber ist denn so eine Maschine nicht furchtbar teuer?“, fragte Bruno.
„Das müssen wir aus den Erträgen bezahlen, die wir aus dem Forst machen. Wir werden da zuerst viel Holz schlagen und verkaufen müssen. Von dem Geld kaufen wir den Mähdrescher und übrigens auch die Kartoffelerntemaschine, denn wir können dort nur Roggen und Kartoffeln anbauen. Mehr gibt der Boden nicht her.“
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