Am schlimmsten waren aber die Kaufleute wie Frau Koopmann, die er hasste, übrigens auch Frau Harmsen, die Fleischersfrau oder Herrn Gerdes, den Inhaber von Kaiser´s Kaffee, wo er auch „anschreiben lassen“ sagen musste.
Ging nichts mehr, war überall die Liste der Schulden zu lang, musste er zu Fransen. Hier kaufte man nicht gerne ein, der war katholisch. Und außerdem hatte er, beklagte sich die Mutter, nichts Frisches. Herr Fransen hatte eine ruhige, besonnene Art, die Sachen wieder wegzupacken, wenn er nicht anschreiben wollte. Meistens wollte er aber, dann schrieb er auf, ohne aber Bruno zu demütigen. Bruno fand Katholische nicht so schlimm, Herrn Fransen jedenfalls nicht.
8.
Je älter Bruno wurde, desto mehr veränderten sich seine Freundschaften. Immer weniger ließ er sich bei dem Bauern Hinners sehen. Der Alte war gestorben und die Söhne hatten wenig Zeit für die Kinder.
Dafür gab es andere Bekanntschaften. Da war zum einen Dieter. Dieter war auch ein Flüchtlingsjunge, seine Eltern allerdings nicht arm wie Brunos Eltern. Der Vater arbeitete bei der Wohlmann AG, einer Ölförderfirma, bei der die meisten Flüchtlinge Arbeit gefunden hatten und gutes Geld verdienten. Dieter war immer gut gekleidet, er redete die gleiche Sprache wie Bruno und seine Eltern. Dieter war so, wie Bruno gerne sein wollte. Nur teilte er die Freundschaft nicht, die Bruno ihm entgegen brachte. Er verschwand nach einem Jahr, Bruno hörte die Lehrerin sagen, sein Vater sei „versetzt“ worden, in einen anderen Ort.
Im Norden des Hauses, in dem Bruno wohnte, hatte sich zum Dorf hin eine kleine Siedlung gebildet. Dort zog eine Familie Klanders mit ihrem Sohn Karl ein, der ein Jahr älter als Bruno war und den Bruno und seine Brüder Kalle nannten. Kalle war ein Freund der drei Brüder, nicht unbedingt ein Freund von Bruno. Die Unterscheidung war deshalb von Bedeutung, weil sich unter den drei Brüdern ein wechselndes Verhältnis entwickelte. Bruno war der Älteste und hätte auch der Stärkste sein sollen. Nach ihm kam Malte, nur ein Jahr jünger und fast gleichstark, aber was Malte schwächer war, machte er durch größeren Mut wett: Er kletterte auf die höchsten Bäume, übersprang die weitesten Gräben. Bruno gab sich natürlich mutiger. Ohne den Ansporn seines jüngeren Bruders hätte er viele Abenteuer nicht auf sich genommen.
Hendrik, der Jüngste, hatte gegen Malte keine Chance und gegen Bruno noch weniger. Er war rettungslos verloren, wenn Bruno und Malte sich gegen ihn verbündeten. Andererseits war Bruno unterlegen, wenn sich seine beiden jüngeren Brüder gegen ihn zusammen taten. Bruno hatte noch immer Narben am Bein, die ihn an einen solchen Pakt seiner Brüder erinnerten. Diese Bündnisse wurden immer nur für kurze Zeit geschlossen, sie zerbrachen schnell und neue wurden geschlossen, In diesen Kämpfen ging es oft um Kalle, den Ältesten und Stärksten und seine Freundschaft. Im Wetteifer der Brüder um diese Freundschaft, der durch den täglichen Verteilungskampf der Geschwister beim Esstisch verstärkt wurde, sammelte sich so viel Zündstoff auf, dass die Brüder sich selten sehr lange vertrugen.
So war das Leben in dieser Zeit in Brunos Erinnerung geprägt von Kämpfen, Bündnissen, Verletzungen, in dieser Zeit lernte er, mit anderen zu paktieren, rechtzeitig nachzugeben und zu wissen, wann er angreifen konnte.
9.
In der vierten Klasse hatten Bruno und seine Mitschüler Unterricht bei Fräulein Blume. Sie wusste den Heimatkundeunterricht besonders spannend zu gestalten und versuchte, den Kindern auch erste Nachrichten vom politischen Geschehen zu vermitteln. So erzählte sie den Viertklässlern eines Tages von der Atombombe.
„Im Krieg gab es Bomben, die waren nichts gegen die neuen Atombomben, die die Russen jetzt haben. Eine solche Atombombe ist so groß wie eine Streichholzschachtel. Wenn die explodiert, ist von hier bis Hermstadt alles verbrannt und kaputt. Alles Menschen sind dann tot.“
Von den Russen hatte Bruno schon gehört. „Die Sowjets“, wie sein Vater sie nannte, oder „die Russkis“, von denen Anni, ihr Kindermädchen zu berichten wusste, konnte man leicht erkennen. Sie wuschen sich nicht zwischen den Fingern. Anni brachte das besonders gerne an, wenn Bruno und seine Geschwister sich nicht ordentlich die Hände wuschen.
Was half es aber, so fragte sich Bruno, wenn man sie erkennen konnte, aber nicht wusste, ob sie eine Streichholzschachtel bei sich hatten, die sich als Atombombe entpuppte? Jahrelang hatte er Alpträume, in denen solche Bomben, getarnt als Streichholzschachtel, explodierten.
Fräulein Blume war aus Sicht des 8 jährigen Bruno alt, so 30 oder 35 und lebte in Neuburgheim. Hanna traute sich, sie ging zu Fräulein Blume, ließ sich wie andere Mädchen Häkeln beibringen und lauschte ihren Geschichten. Bruno traute sich nicht und war also auf die Erzählungen in den Schulstunden angewiesen. Man lebte in einer Demokratie, das sollte eine feine Sache sein, weil das Volk herrschte. Das Volk, so begriff es Bruno, hieß Adenauer, weil der der Chef von Deutschland war. Auch Adenauer hatte mit den Russen zu tun. Eines Tages erzählten Fräulein Blume und die Eltern zu Hause, Adenauer habe ganz viele Gefangene von den Russen nach Hause geholt. Es gab Bilder in den Zeitungen, die Bruno noch nicht lesen konnte, auf denen ein uralter Mann mit zerknittertem Gesicht neben ausgemergelten jüngeren Männern mit Soldatenmützen zu sehen war.
Sein Vater mochte, im Gegensatz zu Fräulein Blume, Adenauer nicht, wie er zum Besten gab. Es gab einen zweiten Mann, Strauß hieß er, den mochte der Vater schon eher. Der konnte sich aber nicht richtig durchsetzen, weswegen der Vater auch eine andere Partei wählte. Was das alles bedeuten sollte, wusste Bruno nicht. Er glaubte jedenfalls fest an Adenauer, weil der den Russen die Gefangenen weggenommen hatte. Fräulein Blume versuchte dann noch, den Viertklässlern beizubringen, was ein Parlament war und wie Regierung funktionierte, aber da hörte selbst Bruno nicht hin. Fräulein Blume sah ihm das nach und gab es auf, davon zu erzählen. Sie hatte andere Sorgen. Neben Bruno saß Henrik Hanken, der schon drei Mal sitzen geblieben war, ein kräftiger Junge, über zwölf Jahre alt, der alle in der Klasse hätte verhauen können. Die Stärke nutzte ihm aber nichts, weil er nach den Maßstäben von Fräulein Blume der Schwächste war. Henrik konnte nicht einmal das Wort „König“ lesen. Wurde er hierzu aufgefordert, buchstabierte er jeden Buchstaben laut „ K-ö-n-i-g“, konnte die Buchstaben erkennen, wusste aber nicht, was die Zusammensetzung bedeuten sollte. Wurde Henrik aufgefordert, 3 und 6 zusammenzuzählen, nahm er seine Finger zur Hilfe, 3 und 6 gab 9, das war in Ordnung, fragte ihn aber jemand nach 6 und 7, reichten die Finger nicht aus. Henrik sah zu Bruno auf, er war zwar weit stärker, aber Bruno war ohne jeden Zweifel und mit weitem Abstand der beste Schüler in der Klasse. Er konnte König lesen und 3 mal 7 ausrechnen. Bruno hatte auf dem Zeugnis lauter Einsen, Henrik lauter fünfen, eine sechs gab es damals noch nicht.
10.
Brunos Großmutter mütterlicherseits, von den Kindern Mum genannt, lebte in Hannover. Bruno, knapp 10 Jahre alt, durfte mit seinen Eltern, ohne Geschwister, nach Hannover fahren, Mum besuchen. Nie hatte Bruno sich geborgener gefühlt, hinten sitzend in dem VW Käfer des Vaters, der Vater fuhr, die Eltern plauderten vorne, Bruno konnte nicht verstehen, was, wollte aber auch nicht zuhören, er fühlte sich einfach nur von den Eltern beschützt.
Die Fahrt war endlos. Kurz vor Hannover wendete sich der Vater zu Bruno um und sprach ihn an.
„Bruno, wenn wir gleich zu Mum kommen, ist da eine Dame, ungefähr so alt wie Mama. Das ist Tante Kathrin, die Schwester Deiner Mutter. Du weißt doch noch, wie ich dir den Handkuss beigebracht habe? Tante Kathrin ist eine Dame, der man den Handkuss gibt. Also nicht vergessen: Benimm dich anständig und küss ihr zur Begrüßung die Hand!“
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