Natürlich blieb es nicht aus, dass meine Mutter alles über mein Fernbleiben von der Schule erfuhr. Es war an einem Nachmittag, als meine Mutter mich mit in die Stadt nahm. Auf dem Rückweg sahen wir uns die Bilder in der Kassenhalle des Kinos an. Ich glaube, dass der Film „Münchhausen“ mit Hans Albers auf dem Programm stand. Die Bilder zeigten eine für mich fremde Welt, mit der ich kaum etwas anfangen konnte. Meine Mutter meinte, dass es ein Märchenfilm wäre. Wir wollten gerade die Kassenhalle verlassen, als ein Junge, den ich nicht kannte, von der anderen Straßenseite herüber eilte. Es war ein typischer Schlauberger mit Brille und so. Von mir wollte er nichts. Er guckte mich auch nicht an, als er meine Mutter fragte, warum ich nicht mehr zur Schule käme.
Was kam jetzt? Der Hühnerblick kam! Der Hühnerblick traf erst den Jungen, der es plötzlich mit der Angst bekam, denn er trat einen Schritt zurück und blickte dabei verlegen zu Boden. Dann traf mich der Hühnerblick und das darin liegende ungläubige Erstaunen ließ auch mich verlegen zu Boden blicken. Die Frage kam wie aus weiter Ferne: „Ist das wahr, Dieter?“ Ich erwog schon zu lügen und alles abzustreiten, als ich dem Jungen, der nun nicht mehr zu Boden blickte, in die Augen sah. Der Junge machte solch einen ehrlichen Eindruck, dass mir schnell klar wurde, dass meine Mutter dem mehr glauben würde als mir. Ich nickte also bestätigend mit dem Kopf. Der Junge, wohl weil er seine Aufgabe als erfüllt sah, eilte davon. Meine Mutter war sprachlos und sie blieb es auch während des ganzen Weges bis zum HAUS HOHENZOLLERN. Zum ersten Mal nahm ich bewusst die große Wölbung ihres Bauches zur Kenntnis und dumpf grübelnd überlegte ich, ob ich nicht auch bald mit einem Geschwisterchen rechnen könnte. Die anderen Kinder sprachen nämlich immer von den dicken Bäuchen, die ihre Mütter hatten, bevor die Geschwisterchen kamen. Ich versuchte mir auch vorzustellen, wie meine Mutter ohne den dicken Bauch aussehen würde.
Mein Fernbleiben von der Schule empfand meine Mutter wohl als peinlich, denn auch im HAUS HOHENZOLLERN stellte sie mich nicht zur Rede. Die anderen Mütter und Kinder brauchten ja nicht zu wissen, dass ich ein übler Schulschwänzer war. Abends, als wir allein in unserem Zimmer waren, bekam ich dann doch einiges zu hören. Das, was ich da gemacht hatte, war ja schon schlimm genug, aber meine Lügen waren das Schlimmste. Der Papa, der bald käme, würde mir dann einiges erzählen. Ich horchte auf! Der Papa? Ja, der Papa würde kommen, denn sie müsste für etwa drei Wochen ins Krankenhaus, weil der Klapperstorch ein Geschwisterchen vorbei bringen würde. Meine Mutter sagte wirklich, dass der Klapperstorch das Baby bringen würde und ich fragte mich, weshalb sie dafür ins Krankenhaus musste. An den Klapperstorch glaubte ich zwar nicht, aber wie das mit dem Geschwisterchen richtig ablaufen würde, war für mich doch ziemlich nebulös. Das Geschwätz meines Bruders Günter, wonach die Frauen da so ein Ding haben, wo die Kinder rauskommen, nahm ich natürlich nicht für voll.
Vorrangig in diesem Moment war aber, dass meine Mutter mir eine Entschuldigung für die Schule schreiben musste. Sie fragte mich, ob ich wirklich, wie der Junge gesagt hatte, drei Wochen von der Schule fern geblieben bin. Beschämt nickte ich mit dem Kopf. Am nächsten Tag ging ich mit sehr gemischten Gefühlen zur Schule. War es Zufall? Hinter der nächsten Ecke traf ich Peter wieder. Er war in Gesellschaft von vier oder fünf anderen Jungen. Auch bei ihm ist die Schulschwänzerei aufgedeckt worden, jedoch auf eher bürokratische Art und Weise. Die Schule hatte einen Brief geschickt, der aber von der NSV-Betreuerin in Empfang genommen wurde, da seine Mutter ja noch im Krankenhaus war, um sich von den Strapazen der Geburt zu erholen. „Gut, dass mein Vater den Brief nicht gesehen hat!“ sagte Peter zufrieden grinsend. Von der NSV-Betreuerin musste er sich aber einige böse Worte anhören. Was ihn aber wirklich beunruhigte, war die Drohung, dass alles dem Führer gemeldet würde, wenn er sich nochmals unterstehen sollte, die Schule zu schwänzen. Auf dem Schulhof trennten sich dann unsere Wege. Er ging in die vierte Klasse, ich in die dritte.
„ Ach, sieh mal einer an! Da ist ja unser lieber Hans Dieter Schulz vom Tode auferstanden! Da ist die Freude aber groß!“ Ja, es war mein Lehrer, der mich so hohnlachend begrüßte. Er lachte mich vermeintlich freundlich an, aber aus seinen Augen funkelte der blanke Hohn. Dass er es nicht gut mit mir meinte, erkannte ich an der Frage, die er mir stellte: „Hast Du auch eine Entschuldigung für Dein Fehlen in den letzten drei Wochen?“ Unter den kritischen Blicken meiner Mitschüler suchte ich in meinem Tornister nach der Entschuldigung, die meine Mutter mir geschrieben hatte. „Natürlich vergessen!“ höhnte mein Lehrer, und dann fand ich den Brief. Er öffnete ihn, warf einen kurzen Blick auf die Entschuldigung und gab sie mir zurück. „Bei solch einer langen Krankheit verlange ich ein ärztliches Attest, anderenfalls kommt ins Zeugnis, dass Du drei Wochen unentschuldigt gefehlt hast!“
Ich kann mich nicht erinnern, meiner Mutter von der Forderung des Lehrers berichtet zu haben. Auch erinnere ich mich nur sehr ungenau an den weiteren Verlauf meiner schulischen Laufbahn in Bad Kissingen. Dann waren ja auch Sommerferien und die Schule konnte fürs Erste vergessen werden. Ja, es waren Sommerferien, aber richtige Ferien waren es auch wieder nicht, denn wir mussten für unsere Soldaten Kräuter und Beeren sammeln. In der Umgebung von Bad Kissingen gab es an den Wegrändern Unmengen von Kamille - und Pfefferminzpflanzen, die wir, jedes Mal in Gruppen von 6 bis 8 Schülern, sammelten. Ich hatte mich dann auf eine bestimmte Beerensorte spezialisiert. Das waren fast kirschgroße, dunkelblaue Beeren, die an großen Sträuchern wuchsen. Ich war mit großem Eifer dabei, weshalb ich mehrmals gelobt wurde. Was das aber für Beeren waren und was man daraus machte, das weiß ich bis heute nicht. Essen konnte oder sollte man sie jedenfalls nicht.
Im Hause HOHENZOLLERN gab es einen Eklat, der jedoch von uns Kindern als interessante Abwechslung betrachtet wurde. Dieser Eklat war genau genommen die Folge eines Vorgangs, an dem ich zunächst schuldlos war. Peter, die anderen Jungen und ich bildeten so eine Art Jungschar, die sich zu gemeinsamen Spielen zusammen fand. Aus der Sicht mancher Erwachsener spielten wir meistens dumme Streiche. Der größte von uns, seinen Namen weiß ich leider nicht mehr, war unser Anführer und der bestimmte stets, was wir machen wollten. Übelmeinende hätten uns auch als eine Kinderbande bezeichnen können. An dem Tag, an dem sich alles abspielte und zum Eklat führte, sollte unser Anführer angeblich für seinen kleinen Bruder ein Buch kaufen. Gutgläubig folgten wir ihm. Die Buchhandlung war direkt hinter der Saalebrücke. Wir gingen alle hinein. Im Laden waren so viele Kunden, dass wir nicht beachtet wurden. Alle sechs interessierten wir uns für die wunderbaren Bildbände, die in einem der seitlichen Regale standen. Ein besonderes Buch war es dann, welches die Blicke von uns allen auf sich zog. So etwas hatten wir noch nie zuvor gesehen: Ein toller Bildband über Dinosaurier! Gab es solche Tiere wirklich? Der Laden wurde immer voller und wir wurden weder vom Verkaufspersonal noch von der Kundschaft beachtet.
Nach einiger Zeit hatten wir genug gesehen und ohne dass unser Anführer für seinen kleinen Bruder das Buch gekauft hätte, verließen wir die Buchhandlung. Gemächlich bummelnd gingen wir zurück und benutzten den Weg, der direkt neben dem Saaleufer lag. Ja und dann? Dann hatte einer von uns den Bildband mit den Dinosauriern! Poah! Mann eh! Wieso hatten wir das Buch dabei? Wer von uns hatte es gekauft? Keiner hatte es gekauft! Dann hatte es doch einer geklaut! Wer? Keiner hatte es geklaut! Aber es war doch da! Ja, ja, das stimmte zwar, aber geklaut hatte es niemand von uns! Das Buch gehörte also uns allen, oder? Klar doch, dass es uns allen gehörte. Und wohin sollten wir mit dem Buch, das uns allen gehörte? Unser Anführer meinte, dass wir damit am besten zum HAUS HOHENZOLLERN sollten, also da, wo ich wohnte. Ich wusste nicht so recht, was ich zu diesem Vorschlag sagen sollte und guckte unseren Anführer fragend an. Der begründete seinen Vorschlag mit dem Pavillon im Garten von HAUS HOHENZOLLERN. Da konnte man sich hinsetzen und die Bilder mit den Dinosauriern in aller Ruhe bewundern. Das Schöne an dem Pavillon war aber, dass man dahinter das Buch sehr gut verstecken konnte, weil da dieser Kasten war. Also gingen wir alle zum HAUS HOHENZOLLERN. Es ging eine etwa achtstufige Treppe hoch und dann waren wir im Garten dieses Kurhauses, welches ja mein Zuhause war. Einige Mütter saßen auf den Bänken und sahen dem Spiel der Kinder zu. Auch Günter und Karl-Heinz, meine beiden Brüder spielten mit. Unsere Mutter war aber nicht zugegen. Sie fühlte sich seit einiger Zeit immer sehr müde und machte wohl oben in ihrem Zimmer ein Nickerchen. Das kam wahrscheinlich von dem neuen Geschwisterchen, das der Klapperstorch bald bringen würde.
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