Aus heiterem Himmel. Ich hätte mir einfach nur Glück für sie gewünscht. Und bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt glücklich war.«
»Das war sie ... bestimmt. Sie hatte dich und sie konnte vielleicht durch dich wieder jung werden«, stammelte er. Ich blickte hoch und sah in seine Augen. So vollkommen, so rein. »Verrätst du mir, über wen ihr geredet habt?«
»Sie sollten vielleicht erfahren, was sie sagte.« Er nickte und ich erzählte es ihm. »Sie wissen, um wen es geht«, endete ich.
»Und warum sagst du immer noch ›Sie‹ zu mir?«
»Ganz einfach: Sie haben mir das ›Du‹ noch nicht angeboten.« Da musste er lachen.
»Wir haben die Nacht in einem Bett geschlafen«, stellte er fest.
»Mir wurde beigebracht, Lehrer zu siezen und auch ältere Personen.« Oh, ich glaube, das kam falsch rüber.
»Autsch«, sagte er und griff sich theatralisch ans Herz.
»Nein, tut mir leid. So alt sind Sie nicht. Unter anderen Umständen hätte ich wahrscheinlich direkt ›Du‹ gesagt, ohne darauf zu warten. Aber Sie sind immer noch mein Lehrer und ich möchte Sie auf keinen Fall als solchen missen wollen. Sie sind der beste Lehrer, den ich mir vorstellen kann.«
»Das schmeichelt, auch wenn es zu viel des Guten ist.«
»Nicht im Geringsten.«
»Du musst mich nicht in der Schule ›duzen‹, aber außerhalb wäre es doch okay«, bot er mir an.
»Das ich Sie Jacob nenne, ist schon eine Überschreitung dessen, was vernünftig wäre.«
»Möchtest du dann wenigstens über deine Gefühle reden?«
»Sie wissen es und das reicht mir«, versuchte ich, dem ein Ende zu setzen. Das Gespräch war unangebracht. Und doch - dessen war ich mir unglaublich sicher - tat er es mir zuliebe, nicht weil er irgendetwas von mir wollte. Es mag naiv klingen und andere Mädchen, in meiner Situation, würde ich raten, schnellstmöglich abzuhauen, aber es war etwas anderes. Ich fühlte und spürte einfach, dass er niemals unangebrachte Gedanken hegte. Er war ein guter Mann, durch und durch. Und doch sollte sich niemand von dem Schein dessen, was jemand vorgibt zu sein, beeindrucken lassen.
»Möchtest du nicht wissen, was ich darüber denke?«
»Natürlich. Sehr gerne sogar. Aber es würde keinen Unterschied machen.«
»Deine Oma hatte jedenfalls Recht«, sagte er ohne Umschweife und sah mir dabei in die Augen. Er blinzelte nicht einmal, sondern schien einfach nur abzuwarten. Abwarten und hoffen, dass ich nicht Reißaus nehme.
»Ich weiß«, seufzte ich. »Sie hat immer recht.« Er lächelte und trank seinen Milchkaffee.
»Beunruhigt es dich?«, hakte er nun doch vorsichtig nach.
»Das sie immer recht hat? Und wie! Aber das sie in Bezug auf Ihnen recht hat, nein. Tief im Inneren wusste ich es.« Er nickte. Ich lächelte in meine Tasse hinein. »Es ist schön, die Gewissheit zu haben. Und doch frage ich mich, wie es nun weitergeht.« Er sah mich an und ich fügte hinzu: »Werden Sie mich jetzt vor die Tür setzen oder meiden?«
»Warum sollte ich?«
»Weil es ein Spiel mit dem Feuer werden könnte. Wenn wir nicht aufpassen.«
»Du hast zu viel Angst.« Er meinte es nicht so, wie es klang, dachte ich. Eher: Als ob ich doch zu viel Angst vor ihm hätte und nicht, als würde ich übertreiben mit dem, was ich sagte.
»Nicht vor Ihnen«, meinte ich ehrlich. Er wirkte ein wenig erleichtert.
»Darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen?« Er nickte. »Marie hatte ich von meinem ersten Kuss erzählt. Aber ich verschwieg das Wichtigste.« Er hörte aufmerksam zu. »Nein, es blieb beim Kuss. Er war etwas älter als ich. Nicht viel, nur anderthalb Jahre.« Irgendwas an seinem Blick verriet mir, dass meine Wortwahl falsch war. »‹tschuldigung. So war es nicht gemeint.« Ein Lächeln zierte seine Lippen, wunderschön. »Wie dem auch sei. Wir waren befreundet, da er der Bruder einer Freundin war. Wir fanden uns beide toll. Wir waren nicht wirklich verliebt. Aber irgendwas war. Wir beschlossen, uns zu küssen, um festzustellen, ob wir unsere Freundschaft vielleicht vertiefen sollten. Es war, wie gesagt, mein erster Kuss. Und er war schön. Wir waren uns einig, Freunde zubleiben. Es war okay, vollkommen. Wir waren ja nicht in einander verliebt. Zudem Zeitpunkt konnte ich mich noch nicht so in meine Mitmenschen hineinversetzen. Ich wusste nicht, was er fühlte. Ich wusste nichts über die Probleme, die er hatte. Hätte ich es doch nur gewusst ...« Ich sah, wie Jacob versuchte zu folgen. »Ich dachte, wir seien Freunde. Wissen Sie, Freunde, die sich alles erzählen können. Aber scheinbar irrte ich mich. Er hatte noch ein zweites Leben, sozusagen. Er war mit den falschen Menschen zusammen. Ich glaube, sie nahmen alle irgendwelche Drogen. Er tauchte unter und verbrachte nur noch Zeit mit ihnen. Später erfuhr ich, dass er monatelang in ihrer Clique war und sie jedes Wochenende einen drauf machten. Drogen, Alkohol. Was er nahm, weiß ich nicht. Spielt wohl auch keine Rolle. In seinem Rausch rief er mich an. Wir trafen uns und er wollte mich bedrängen. Es war nichts. Wirklich. Er war obszön und launisch. Er war nicht der Junge, den ich mochte und kannte. Mit so jemanden wäre ich nie befreundet gewesen. Als ich seinen - nennen wir es - Avancen nicht nachkam, wurde er wütend. Was als Nächstes passierte, weiß ich nicht mehr. Ich wachte erst im Krankenhaus auf und erfuhr, das Toby sich das Leben genommen hatte.«
»Ach herrje. Heilige Scheiße«, stieß er hervor.
»Das können Sie laut sagen.«
»Hast du daher die Narbe?«, erkundigte sich Jacob.
»Ich glaube schon. Mir fehlen etwa sechs Stunden.« Er wurde blass.
»Hat er ...?«
»Mmh? Oh, weiß ich nicht.«
»Was?« Er saß stocksteif da und wirkte blass und erschüttert.
»Ja, ich wurde untersucht«, stammelte ich.
»Und?«
Schulterzuckend meinte ich, dass er es wohl versucht habe, aber dass ich mich wehren konnte. »Mehr weiß ich nicht. Es ist, als wäre an dieser Stelle ein großes, schwarzes Loch. Fast, als wollte mein Unterbewusstsein vermeiden, dass ich die Wahrheit erfahre. Möglicherweise ist es besser so. Nicht zu wissen, was Toby mir wirklich angetan hatte, ist vielleicht erträglicher, als zu wissen, zu was er im Stande gewesen wäre ... Sorry, ich weiß, es klingt seltsam ...«
»Das tut mir schrecklich leid.«
»Muss es nicht. Mir geht es gut.« Wir sahen einander in die Augen. »Es hört sich schlimm an, so wie ich es erzähle, in meiner Passivität, das ist mir vollkommen bewusst. Ich weiß nicht, was passiert ist. Und das ist okay. Der Toby, den ich kannte und mochte, hätte mich niemals so behandelt. Niemals. Doch dieser Typ stand unter Drogen. Er war nicht mehr er selbst. In anderen Fällen würde ich das definitiv nicht so sehen. Drogen hin oder her. Aber als ich diesen Jungen da sah, dessen Augen aussahen, als seien sie schon Tage wach gewesen. Der sich selbst hasste, für das, wie er war und der sich das Leben nahm, als ihm klar wurde, was er getan hatte ... Ich wusste nicht, ob ich weinen durfte. Sie wissen schon, trauern durfte. Also weinte ich alleine. Ich hab damit abgeschlossen. Seitdem versuche ich, meinen Mitmenschen zu helfen.« Ich aß etwas von meinem Obst. »Ich habe Ihnen das nicht einfach so erzählt«, gestand ich. »Sie sollen verstehen, wieso ich nicht auf etwas Derartiges eingehen kann.«
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