»Maja?«
»Mmh?«, ich blickte auf. »Oh, ›tschuldigung. Ja, hat es.«
»Inwiefern?«
»Insofern, dass das Land sich endgültig von der Rassentrennung befreite. Schon klar, das es in den 1950ern, etwa, passierte, aber mit dieser Amtszeit ist es offiziell. Ein Farbiger hat es ins ›Weiße Haus‹ geschafft. Er hat einiges bewirkt: Krankenversicherung für alle - na ja, zumindest so gut wie.
Er kämpft, dass der Krieg bald aufhört und er will sich für die Homo-Ehe einsetzen, sollte er noch einmal gewählt werden.
Für mich ist dieser Mann ein wunderbarer Präsident, der sich für die benachteiligten einsetzt und wieder leben ins ›Weiße Haus‹ gebracht hat - schließlich lebten seit den Kennedys keine Kinder mehr dort.« Meine Stimme war leidenschaftslos, obwohl ich das Thema interessant fand.
»Danke. Will irgendjemand was dazu sagen?«
»Ja, die Homo-Ehe sollte verboten werden«, sagte jemand, der Gregor hieß.
»Wieso?«
»Weil das nicht richtig ist.«
»Im 21. Jahrhundert?«, warf ich ein.
»Wieso interessiert es dich, Maja? Bist du etwa so eine?«, fragte der Junge.
»Nein. Aber wenn dem so wäre, würde ich dazu auch stehen - bestimmt. Es spielt doch keine Rolle, wer wen liebt. Solange man liebt und geliebt wird, sollte es niemandem verwehrt sein, seine Liebe auch öffentlich zu machen und mit dem Ja-Wort zu besiegeln.«
»Maja ist Homo«, brüllte irgendjemand. Ich zuckte mit den Schultern.
»Es tut mir leid, wenn jemand - heutzutage - noch so darüber denkt und nur die respektiert, die genauso sind.« Kopfschmerzen hatte ich und es nervte, wie man so engstirnig sein konnte.
Zum Glück war die Stunde zu Ende und wir hatten noch Musik. Und während der letzten 45 Minuten wurde über mich hergezogen. Herr Traum war ja nicht da. Als die Schule endlich aus war, wartete ich auf dem Schulhof auf meinen neuen Mitbewohner. Währenddessen las ich weiter in dem Buch ›Julia‹. Es war an ›Romeo und Julia‹ angelehnt. Ob es wohl auch so traurig endet?
Als ich Herrn Traum aus dem Gebäude kommen sah, hatte ich die Hälfte gelesen.
»Entschuldige, hat länger gedauert.«
»Kein Problem. So konnte ich gut im Buch vorankommen.« Er nickte und setzte sich zu mir.
»Willst du darüber reden?«
»Über was?«, wollte ich wissen, da ich wirklich keine Ahnung hatte, worauf er hinaus wollte. Es gab so vieles, über das ich reden würde. Doch er meinte nur das, was in Geschichte geschehen war. Ich war zu müde, um darauf einzugehen, und war eigentlich nur traurig, wie die Meinung darüber war. Er fragte mich schließlich, ob wir meine restlichen Sachen aus dem Haus holen wollten, ich nickte, denn ich brauchte dringend meine Klamotten.
Mein Magen fühlte sich seltsam an. Als wir vor dem Haus standen, hatte ich Angst. Herr Traum nahm meine Hand und nickte mir zu. Nun schlug mein Herz wie wild. »Okay«, flüsterte er. Ich schluckte und schloss die Tür auf. Wir hatten die Genehmigung der Polizei. In einem Schrank waren die Reisetaschen und Koffer verstaucht, wir schnappten uns einige und fingen an, meine Sachen dort einzupacken.
»Fehlt etwas?«
»Kann ich ...«, noch nicht sagen, wollte ich erwidern. Aber da entdeckte ich, in meiner Jane Austen - Bücherecke, eine Lücke.
»Was ist?«
»‹Mansfield Park‹ fehlt.« Mir war klar, dass er meinen Ausbruch nicht verstehen konnte - es war doch nur ein Buch. »Es ist nicht nur ein Buch«, meinte ich, als ob ich meine eigene Aussage widerlegte. »Es war von meiner Oma. Wie viele andere Schätze, die hier stehen. Als ich ihre Sachen einpackte, fiel mir das Buch runter. Es landete auf einer Seite, die mit einer Notiz bemerkt wurde. Da stand: ›Liebe Anne, so wie auch Fanny es machte, musst auch du auf dein Herz hören. Öffne deine Augen und schaue dich genau um. Die Liebe ist da, du musst sie nur in dein Herz lassen. Komm mit mir! Für immer, dein Jack.‹«
Herr Traum stand bei mir. Ich konnte nicht mehr. Er wischte eine Träne weg und umarmte mich.
»Jetzt kann ich dich umarmen, auch wenn ich es heute Vormittag schon wollte.«
Es fühlte sich eigenartig an. Als würden Stromschläge von ihm zu mir wandern oder umgekehrt. Mein Armband wurde wärmer, aber ich ignorierte es und wollte nur diesen Augenblick genießen. Auch wenn meine Gefühle verkehrt waren und ich mich schämen müsste. Wir lösten uns wieder von einander und plötzlich spürte ich eine Kälte, die ich nicht greifen konnte.
»Danke. ›Mansfield Park‹ ist eine meiner liebsten Geschichten. Sie wird unterschätzt. Jack muss ihr das Buch geschenkt haben und sie gab es mir. Es ist unfair. Es ist sooft gelesen worden und sah auch so aus, dass es keinen Sinn macht. Für mich allerdings ist es sehr wertvoll. Es war ein Sicherheitsgefühl. Es gab mir Kraft. Genauso wie das Foto des Mannes, der es ihr schenkte.«
»Das Foto gibt dir kraft?«, fragte Herr Traum verblüfft nach.
»Blöd, oder? Aber so ist es.« Wir sahen einander in die Augen.
»Soll ich dein Bad übernehmen?« Er runzelte für einen Moment die Stirn, als würde er überlegen, ob dieser Vorschlag absurd klang.
Ich nickte. Kurz darauf rief er mich zu sich. Er zeigte mir die Stelle, in der die Kamera versteckt war.
»Er hatte also die beste Sicht auf mich.«
»Wie fühlst du dich?«
»Missbraucht. Er verschaffte sich Zutritt in mein Leben und beobachtete mich. Jede Nacht schlief ich in einem Bett, indem am Tag jemand anderes lag. Er wohnte hier. Es ist gruselig. Er hätte so leicht ins Zimmer kommen können, während ich schlief. Eine verschlossene Tür ist kein Hindernis. Ich möchte nicht mehr hier sein.« Er legte kurz seine Hand auf meinen Arm und drücke ihn behutsam, ehe wir schnell zu ende packten und alles in seine Wohnung brachten.
Auf dem Weg dorthin schwiegen wir.
»Du zitterst«, bemerkte er, als wir auf dem Parkplatz standen.
»Das ist alles zu viel.«
»Ich werde den Diebstahl melden«, sagte er bestimmend und umklammerte sein Lenkrad etwas fester.
»Danke. Die Seiten waren eingerissen, leicht vergilbt, der Schutzumschlag verschwunden und das Buch war rot-braun. Eine Widmung stand auf der ersten Seite: ›Für Anne.‹ Es riecht nach Rauch, was ich immer sehr seltsam gefunden habe.«
»Okay.«
Wir trugen die Taschen in seine Wohnung.
»Möchtest du ein Bad nehmen, während ich uns was zum Abendbrot koche?«
»Gerne.« Er bereitete alles vor und machte Badezusatz in die Wanne. »Herr Traum, ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte.«
»Jetzt geh erst mal baden und versuch dich zu entspannen.« Ich nickte und ging hinein. Meine Klamotten und meine Musik hatte ich dabei und für zehn Minuten verschwand die Welt um mich herum. Den Pelz an meinen Beinen und Achseln entfernte ich auch gleich. Anschließend machte ich alles sauber und föhnte etwas mein Haar und ließ es offen. Ich cremte mich ein und zog meinen Jogginganzug an. Mit meinen Sachen unter dem Arm huschte ich hinaus und brachte es ins Zimmer. Irgendwann musste ich Wäsche waschen. Als ich in die Küche kam, beobachtete ich Herrn Traum, wie er am Herd stand. Radio lief und er summte leise vor sich hin.
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