Beinahe hätten die Scherben Naxbil verletzt, denn durch die Größe des Spiegels hagelte es Splitter, die fast den Sohn des Vincus erreichten, der erschreckt zurückwich. Wie aus einer Trance erwachte er jetzt, beschaute sein Werk und heulte kurz auf. Wie alles in dem Zimmer war auch der Spiegel ein antikes Stück gewesen, welcher so alt war, dass er beinahe schon ein eigens Leben besessen hatte. Traurig starrte ihn der leere Rahmen an, die geschnitzten burlesquen Figuren tanzten immer noch, doch nicht mehr um den Spiegel herum, sondern nur noch für sich, was ihnen ein sonderbar unnützes Aussehen verlieh. Es kam Naxbil so vor als drehten sie sich nach ihm um, schauten ihn vorwurfsvoll an, einige wollten ihm sogar drohen. Rasch wich Naxbil ein weiteres Stück zurück, nahm seinen Umhang und floh aus dem Zimmer.
Auf der Treppe nach unten schaute er nochmals nach oben, wo die ehrenwerte Gesellschaft auf die Entscheidung seiner Schwester wartete. Noch war es nicht so weit, denn sonst würde es oben lauter zugehen. Er lief rasch hinab, trat über die prachtvolle Aufgangstreppe, die mehrere Phrakten breit war, in den Empfangssaal, der selbst für nocturne Verhältnisse düster vor ihm lag. Der rote Teppich hatte bereits bessere Tage gesehen, doch aus irgendeinem Grund hatte ihn Vincus noch nicht ersetzt, was schließen ließ, dass es einen guten Grund dafür gab. Naxbil hielt sich mit dieser Frage nicht lange auf. Er durchschritt die Halle und ging links auf eine Seitentür zu. Durch das riesige gotische Eingangsportal wollte er nicht gehen, schon weil sich die vier Phrakten hohe Tür so schwer öffnen ließ. Der einfache Seitenausgang erfüllte jetzt ebenso seinen Zweck.
Draußen sog Naxbil die kühle Nachtluft ein. Vor ihm lag der verwilderte Garten, auf den Vincus ganz offensichtlich keinen Wert legte. Marletta, Naxbils Mutter, hatte den Garten gepflegt und so manches unheimliche Kraut angepflanzt, das jetzt wie außer Rand und Band wucherte und beinahe die Wege versperrte. Nur der Hauptweg war frei, denn Baribas schlug einmal im Monat alles kurz und klein, was in den Weg zu wachsen wagte.
Der Mond schien und leuchtete Naxbil den Weg. Hier draußen vor den Toren der Stadt war es immer ruhig, nichts zu spüren von der Bewegung, die in der Oberstadt herrschte. Heute, nach diesen Ereignissen, stand Naxbil der Sinn nach etwas Verbotenem. Die Unterstadt, der Ort, an dem die Namenlosen lebten, der Stand der Nocturnen, der in Elend existierte und deshalb geächtet wurde. Sie hatten keine Stimme im Parlament, wurden seit Jahrhunderten unterdrückt und vom eigenen Volk nieder gehalten. Wer in diese Welt der Namenlosen geboren wurde, hatte keine Chance auf ein gutes Leben, musste in den verdammten Gettos der Unterstadt sein Dasein fristen. Seit Jahrhunderten führten die oberen Schichten einen ungerechten Krieg gegen die Töchter und Söhne der Namenlosen, die deshalb so hießen, weil sie keinen ehrwürdigen und alten Nocturnen-Namen trugen, sondern nur einen Vornamen. Das Heer existierte nur aus dem Grund, um den Namenlosen alle paar Monate einzubläuen, dass es Nocturnen gab, die sie beherrschten. Dabei bildeten die Namenlosen das Rückgrat der Gesellschaft. Zu allen möglichen Tätigkeiten wurden sie herangezogen, mussten auf den Feldern arbeiten, wenn die Ernte anstand oder als Bauarbeiter dienen, wenn das Parlament Baumaßnahmen beschlossen hatte. Das alles für wenig Lohn und noch weniger Anerkennung.
Naxbil hatte sich schon sein Leben lang zu diesen Rechtlosen hingezogen gefühlt, nicht dass er sie nicht wie jeder Hochgeborene verachtete, sondern weil er die ungezwungene Art, die die meisten Namenlosen in sich trugen, bewunderte. Der Tod konnte immer kommen, jederzeit, denn ein Namenloser musste zu jeder Stunde befürchten, von einem Hochgeborenen grundlos umgebracht zu werden. Das führte dazu, dass die Namenlosen ohne Scham und Hemmung lebten, denn was half es schon zu warten? Zwar gab es in regelmäßigen Abständen Aufstände, die jedoch allesamt mit äußerster Brutalität niedergeschlagen wurden, so dass jede Hoffnung auf Gerechtigkeit seit Jahrhunderten ausgewischt und vergessen war. Diese Aufstände waren nur ein Mittel der Hoffnungslosen, durch den Tod von ihrem erbärmlichen Schicksal erlöst zu werden.
Naxbil war bereit für die Vergnügungen der Nacht. Vergnügen, die nur die Hoffnungslosen empfinden konnten und die er aus diesem Grund immer öfter suchte. Vorher musste er noch bei seinem Freund Mintros vorbeigehen, der als Einziger von seinen verbotenen Ausflügen wusste. Seine Kleidung war zu auffällig, er musste sich kleiden wie ein Namenloser, die nur bestimmte Gewänder tragen durften. Aus Angst vor Entdeckung bewahrte Naxbil diese Gewänder bei Mintros auf, der allein lebte und daher nicht Gefahr lief, von anderen entdeckt zu werden. Das wäre der Sargnagel in seinem Leben, wenn herauskäme, dass er sich in der Unterstadt aufhielt. Wahrscheinlich würde man ihn zwingen, selbst als Namenloser zu leben, mit ihm auch seine ganze Familie. Doch niemand wusste von seinem Schattenleben und er wischte sämtliche Zweifel weg, indem er sich einredete, dass er Abwechslung brauchte.
Er sattelte eine Megantenstute und ritt die kurze Strecke in die Oberstadt zu Mintros, seinem Freund aus Kinderzeiten. Der verstand ihn sofort, war einer seiner ältesten Freunde der Familie. Sogar die Schande seiner Hochzeit hatte Naxbil mit ihm geteilt. Er vertraute Mintros alles an. Ohne viele Worte brachte dieser ihm die Torgu, das einfache Gewand der Namenlosen. Naxbil streifte sie über, schaute in den Spiegel und mochte den Anblick ebenso wie dem vor einigen Stunden, als er in den buntesten Gewändern umherflaniert war.
Mintros' Haus hatte noch einen entscheidenden Vorteil, barg ein Geheimnis, das niemand außer den beiden Freunden kannte. Ganz unten, in den tiefsten Kellern, die nie jemand betrat, in der dunkelsten Ecke, befand sich ein riesiger Stein, der unbeweglich aussah, so schwer schien er. Durch Zufall hatten die beiden Freunde, als sie noch Kinder waren, bemerkt, dass sich dieses Monstrum ganz leicht zur Seite schieben ließ. Was sie dahinter fanden, war wohl der Traum eines jeden Kindes, das noch den Abenteurer in sich spürt. Sie entdeckten ein uraltes Tunnelsystem, das sie auf verschlungenen Wegen mitten in den Berg unter der Oberstadt hineingeführt hatte.
Es handelte sich um ein ausgeklügeltes Straßensystem samt Gebäuden einer längst versunkenen Kultur, die hier vor vielen Jahrhunderten existiert haben musste. Das Wissen um ihre Existenz war in den Fluten der Zeit versunken, niemand ahnte von dieser Stadt unter der Stadt. Es mussten Höhlenwesen von großer Geschicklichkeit und Intelligenz gewesen sein, denn die Tunnel waren fein säuberlich aus den Felsen geschlagen. Bereits in jungen Jahren hatten Naxbil und sein Freund hier gespielt, doch war diese Stadt so groß, dass sie sie nie ganz auskundschaften konnten. Vor einigen Jahren dann hatten sie den Tunnel entdeckt, der direkt in die Unterstadt führte. Damals, sie waren noch Jugendliche, hatten sie sich noch vor Ausflügen in den verbotenen Teil der Stadt gefürchtet, doch mit der Zeit waren sie immer mutiger geworden und hatten sich schließlich getraut, die verbotene Welt der Namenlosen zu betreten. Um nicht aufzufallen, hatten sie geschickt vorgehen müssen. Sie durften nicht erkannt werden, denn die Namenlosen, so harmlos sie auch waren, galten als die Todfeinde der Hochgeborenen der Oberstadt. Bald schon hatten sie Möglichkeiten gefunden, sich inkognito unter die Namenlosen zu mischen. Ein glücklicher Zufall war ihnen zu Hilfe gekommen und hatte ihnen die verbotenen Gewänder, einige Torgus, in die Hände gespielt. Ab diesem Zeitpunkt war es einfach gewesen, denn sie sahen so aus wie alle anderen.
Ein wesentlich größeres Problem waren die ständigen Kontrollen der Armee gewesen. Auf einem ihrer ersten Ausflüge wären sie beinahe entdeckt worden, nur zufällig brachen die Soldaten ihre Durchsuchung ab, kurz bevor Naxbil und Mintros an der Reihe gewesen wären. So hatten sie lernen müssen, sich wie die Namenlosen vor den ständigen Kontrollen der Armee in der Unterstadt zu verstecken, kannten die verschlungenen Gassen und dunklen Ecken, die unbekannten Bars hinter den fensterlosen Gebäuden, in denen die wüstesten und ungehemmtesten Feste stattfanden und wo sie sich beinahe unbehelligt verstecken konnten. Dort, in den finstersten Ecken der Stadt, die selbst die Hochgeborenen nicht kannten, hatten Naxbil und Mintros schon früh das gefunden, wovon junge Nocturnen meist nur träumten. Hier gaben sich die Namenlosen gänzlich ihrer Lust hin, kannten dabei keine Grenzen. Am Anfang war es ein Schock gewesen, bei den ersten Begegnungen mit Nocturninnen waren sie beide noch zurückhaltend und unerfahren gewesen, was sich sehr schnell änderte. Im Laufe der Zeit hatten die Freunde genauso wie die Namenlosen sämtliche Hemmungen verloren, hatten Erfahrungen gesammelt und Dinge getan, die in der Oberstadt, ihrer Heimat, bei Strafe verboten waren.
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