„Das Konto habe ich auch noch nicht gecheckt.“ Dann nahm Ihre Schwester das Telefonat endlich entgegen.
„Hey Schwesterherz, was gibt’s, alles okay?“
„Ehrlich gesagt nein, ich habe gerade gemerkt, dass ich alles vergessen habe.“ „Wie, du hast alles vergessen?“
„Naja, die ganzen Karten sperren zu lassen und mein Handy, ach so ein Mist, hoffentlich wurde mein Konto nicht schon leergeräumt.“ Der Kontostand verriet ihr, dass es nicht so war. Erleichtert atmete sie aus.
„Schwesterchen, hol‘ erst mal Luft, ich kann dich beruhigen, das haben wir alles schon lange für dich erledigt. Konten sind gesperrt, deinen neuen Führerschein musst du beim Bürgeramt beantragen. Dein Handy ist auch gesperrt, wenn du die Nummer behalten willst, könntest du dir eine neue Sim-Karte zuschicken lassen. Das hab ich jetzt noch nicht veranlasst, weil ich nicht wusste, ob du es willst. Habe ich noch was vergessen? Ach ja, am Donnerstag kommt der Schlüsseldienst und wechselt dein Schloss aus.“
Lena kam gar nicht zu Wort. Als ihre Schwester ihre kleine Ausführung beendete, konnte sie nur einen Satz herausbringen:
„Du bist einfach die beste Schwester der Welt!“
„Ich weiß, aber du hast Recht, ich habe dir das irgendwie vergessen zu erzählen, sei nicht böse, aber es war so ein großes Durcheinander.“
„Wie könnte ich dir böse sein, Schwesterherz, du hast dich doch um alles gekümmert, ich bin dir unendlich dankbar.“
„Das ist doch selbstverständlich, aber sag mal Lena, ist es wirklich okay, wenn Tom und ich übermorgen in den Urlaub fliegen? Irgendwie lasse ich dich ungern allein.“ „Alexa Viktoria Große, ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass du dir bitte keine Sorgen machen sollst. Du hast dir dein Urlaub wirklich verdient und ich will, dass du dir die Sonne auf den Bauch scheinen lässt, und mir was Schönes aus Ägypten mitbringst. Außerdem bin ich nicht alleine, Mum und Dad sind jederzeit erreichbar und ich gehe ab morgen auch wieder arbeiten. Wie du siehst läuft alles bald wieder seinen gewohnten Gang.“
„Das du morgen schon wieder zur Arbeit gehst finde ich wirklich überstürzt, aber das habe ich dir ja auch schon mehrfach gesagt. Du machst ja sowieso, was du willst.“
„Ja, stimmt genau, ich gehe ab morgen wieder in mein geliebtes Büro und du fliegst mit Tom in den Urlaub. Jetzt wirst du schnell zum Imbiss fahren und uns zwei Portionen Chinesisch holen und dann gucken wir noch einen Film, Lust?“
„Bin schon auf dem Weg, Schwesterchen, ich weiß, für dich mit Stäbchen, Küsschen.“
Lena knipste das Nachtlicht an, es war erst fünf Uhr morgens. Eigentlich hatte sie noch genug Zeit, bis sie im Büro sein musste, aber sie würde ewig brauchen ehe sie wieder einschlief. Entschlossen stand sie auf, nahm sich ein Handtuch aus dem Schrank und nahm eine lange Dusche. Eine halbe Stunde später föhnte sie sich ihre langen braunen Haare und dachte über gestern Abend nach. Mit chinesischem Essen und dem Klassiker „Interview mit einem Vampir“ ließen sie den Abend gemütlich ausklingen. Schon morgen fliegen Alexa und Tom nach Ägypten. Drei ganze Wochen würde sie ihre kleine Schwester vermissen müssen. Die beiden verband ein sehr inniges Verhältnis.
Alexa ist 27 Jahre alt und eine tolle junge Frau. Die knappen zwei Jahre Altersunterschied machten sich kaum bemerkbar. Lena und Alexa waren nicht nur Schwestern, sondern auch Freundinnen. Trotzdem war die Rollenverteilung totales Klischee, die große Schwester „beschützte“ die Kleine. Tom, den Freund ihrer Schwester mochte sie auch sehr, die beiden waren seit drei Jahren ein Paar und Lena beneidete die beiden manchmal, weil sie einfach so gut zusammen passten. Alexa hatte erfolgreich eine Ausbildung zur Hotelkauffrau abgeschlossen. In den letzten Jahren arbeitete sie sich recht schnell hoch und es sah so aus, als ob ihr im nächsten Jahr die stellvertretende Leitung übertragen werden würde. Lena traute ihr das zu und war jetzt schon mächtig stolz auf ihre kleine Schwester. Nebenbei war sie in ihre Fußstapfen getreten und modelte hier und da für verschiedene Firmen.
Die Schwestern „Große“ hatten optisch viel Glück gehabt und konnten sich nebenberuflich die Haushaltskasse etwas aufbessern. Alexa machte sich nicht viel aus „Schönheit“, sie achtete zwar auf Kleidung und Make-Up, war aber nie arrogant oder eingebildet. Sie sagte immer: „Dafür kann ich weder Singen noch Tanzen, oder habe irgendein kreatives Talent.“ So sah Lena das auch.
Als sie sich so im Spiegel betrachtete und sich das Gesicht eincremte, hielte sie plötzlich inne. Sie reckte ihr Kinn in Richtung ihres Spiegelbildes und begutachtete ihre verheilende Wunde am Hals. Wieder eine Erinnerung mehr. Es war sicherlich keine schöne Erinnerung, aber Lena wusste, in ein paar Jahren, wenn nur noch ein hellrosa Strich übrig geblieben war, würde sie vielleicht einmal tief einatmen und wissen, dass sie es überlebt hatte. Sie klebte ein neues Pflaster auf die frisch vernähte Wunde und zog sich an. Sieben Uhr, Lena nippte an ihrem Kaffee und sah auf die Küchenuhr.
Ich habe immer noch so viel Zeit.
Normalerweise beginnt ihr Dienst um zehn Uhr, aber sie wusste, dass ihr Chef Carsten schon um acht Uhr in der Kanzlei war, also entschied sie, sich gleich auf den Weg zu machen.
„Guten Morgen, Herr Scholz.“
Lena legte ihre Handtasche auf den Stuhl, in der allerdings nicht viel zu finden war, bis auf einen Labello vom Regal zu Hause, eine Zeitung vom Kiosk, den Zweitschlüssel zur Wohnung und einem alten Portemonnaie. Mit dem Rest hatte jetzt der Dieb seine Freude. Glücklicherweise besaßen ihre Schwester und ihre Eltern die beiden Ersatzschlüssel für ihre Wohnung. Alexa trug den Schlüssel immer bei sich und hatte ihn Lena auf die Kommode im Flur gelegt.
„Lena, was machst du denn schon hier? Ich habe erst gegen zehn mit dir gerechnet, obwohl ich dich eigentlich sofort wieder nach Hause schicken sollte, laut den ´Anweisungen´ deines Vaters.“
Stirnrunzelnd hing Lena ihren Mantel an die Garderobe, „mein Dad lässt auch keine Gelegenheit aus, selbst meinen Chef beauftragt er, mir das Arbeiten zu verbieten. Zum Glück weiß ich ja, dass du mich hier brauchst und ohne mich total aufgeschmissen bist. Ist in der letzten Woche viel liegen geblieben?“
Carsten räusperte sich: „Na nun aber mal langsam, ich habe das alles auch sehr gut ohne dich hinbekommen. Ich hätte es auch nicht schlecht gefunden, wenn du dir noch eine Woche Zeit gegönnt hättest, schließlich war das nicht nur ein Kratzer, Frau Große.“
„Ja, halb so wild. Ich bin wieder hier und möchte was tun. Das lenkt mich ab und bringt mich auf andere Gedanken. Carsten hielt Lena an der Schulter fest und stoppte sie auf ihrem Weg zum Schreibtisch.
„Lena, jetzt ehrlich, geht es dir wirklich gut? Es wäre wirklich kein Problem, wenn du…“
Lena unterbrach ihren Chef, „Carsten es ist alles Okay, bitte glaube mir, ich würde es sagen, wenn es anders wäre. Die Ablenkung hier tut mir gut und ich werde es nicht übertreiben, versprochen.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen streichelte Carsten flüchtig über Lenas Wange. „Na gut, Frau Große, dann will ich dir das mal glauben.“
Carsten öffnete die große schwere Flügeltür zu seinem Büro.
„Lena!“ rief er.
„Lena, ich brauche die Unterlagen vom Fall Bull, S. Bull, ich habe sie die letzte Woche schon gesucht und ich glaube die Akte ist verschwunden.“ Lena kam mit einem leichten Grinsen in das Zimmer ihres Chefs, in der Hand eine Akte.
„Das ich nicht lache, du kannst ohne mich! Die habe ich gerade im Fach für den Briefverkehr gefunden, was würdest du nur ohne mich machen.“ Mit einem verschmitzten Grinsen verzog er das Gesicht.
„Ich weiß auch nicht, wer die da hineingelegt hat, ich war es ganz bestimmt nicht!“ Lena winkte die Antwort ab und verließ das Zimmer mit einem Lächeln auf den Lippen.
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