Sagt der Bootsmann: „So einen Typen wie dich kann ich nicht gebrauchen. Du darfst die Hundswache machen, aber keine einzige Überstunde. Egal, ob wir anlegen, ablegen, laden oder löschen, du arbeitest nur nach deiner Uhr. Acht Stunden täglich arbeitest du und keine Minute länger. Verschwinde!“
Ich bin gekränkt, empört und wütend. Die Anweisung des Bootsmannes hat weitreichende Folgen. Sie bedeutet: Auf diesem Schiff werde ich mir weder neue Jeans noch einen neuen Pulli verdienen können. Neben freier Kost und Logis verdienten damals Decksjungen 90,- DM, Jungmänner 120,- DM und Leicht-matrosen 150,- DM monatlich. In den drei Lehrjahren ist man auf Überstunden ernstlich angewiesen, um sich landfein machen zu können - es sei denn, man hat noch sponsernde Eltern oder Verwandte. Aus Kostengründen bin ich bereits von Zigaretten auf Pfeife umgestiegen und laufend dabei, diesen Konsum weiter zu reduzieren. Eins ist mir jetzt klar: Auf diesem Schiff bleibe ich nur mir selbst treu, wenn ich die kommenden Probleme als Herausforderung sehe und die Sache taktisch angehe. Ich brauche Informationen über meinen Gegner.
Die bekomme ich leichter, als gedacht. Bereits einen Tag später, auf meiner ersten Seewache, erzählt der wachthabende Offizier, dass der Bootsmann ein entfernter Verwandter des Reeders ist, dass er entmündigt wurde, dass der Kapitän vor zwei Jahren die Vormundschaft übernommen hat, dass an Land keiner mit dem schwierigen Charakter klar kam, auch nicht in Psychiatrien. Dessen Arbeit an Bord wird als Resozialisierung bezeichnet. Der Bootsmann verhalte sich den Offizieren gegenüber, wie man es erwarten kann: höflich, respektvoll und fachlich kompetent. Sicher, manchmal würden sie Szenen an Deck beobachten, die Kopfschütteln auslösen, aber der Alte sei halt der Auffassung, das bisschen „Dampf ablassen“ müsse jeder Seemann vertragen. Er hat die Offiziere angewiesen, sich aus Konflikten, die durch sonderbares Verhalten des Bootsmannes entstehen, heraus zu halten.
Die Wirklichkeit ist also noch schlimmer, als ich sie mir bisher vorstellte. Jens! Jens! Von wegen - einmaliger Reinfall mit dem ersten Kümo! Dieser Reinfall hier dürfte den damaligen noch übertreffen. Meine Entscheidung steht: Die erste Gelegenheit abzumustern werde ich wahrnehmen.
Durch die Anweisung des Bootsmannes habe ich viel Zeit: Zeit zu beobachten und Zeit nachzudenken. Ich gehe dem Bootsmann aus dem Weg, wo ich kann. Wo ich das nicht kann, bemühen sich beide Seiten, sich gegenseitig nicht wahrzunehmen.
Als ich beobachte, dass der Bootsmann ziemlich abergläubisch zu sein scheint, kommt mir eine Idee, die ich zunehmend besser finde je weiter ich ins Detail denke. Ehrlich gesagt, sie ist mir peinlich, aber als Notwehr und Überlebens-strategie notwendig.
Ich sitze in meiner Kammer und habe die Tür zum Gang offen stehen. Gert und ich haben die schlechteste Kammer des ganzen Schiffes, direkt Wand an Wand mit dem Maschinenschacht. Die Maschine ist hier am lautesten zu hören und deren Vibrationen sind hier am stärksten zu spüren. Hier muss aber auch jeder, der von Deck kommt, oder an Deck geht, vorbei.
Ich lege mir eine Patience, als Wolf vorbeikommt. Er hat den bissigsten Namen von den Dreien, ist aber der Harmloseste von ihnen. Er schaut spöttisch rein und ruft: „Langeweile? An Deck gibt es einiges zu tun!“
„Ich weiß. Leider mag mich der Bootsmann nicht sehen. Soll ich dir mal die Karten legen?“
„Kannst du das?“
„Ja!“
„Ich sag dem Bootsmann nur eben Bescheid, dann komme ich.“
Wolf kommt und ich lege die Karten so, wie die Mutter meines Freundes Charly es bei mir selbst gemacht hat. Das Legen ist Ritual, der Rest ist Psychologie.
„Wolf, diese Reise wird im großen Ganzen ohne Probleme für dich verlaufen. Sieh mal dieses Karo As. So wie es eingerahmt ist, bedeutet das: Vorsicht in zwei Tagen! Wahrscheinlich schrammst du dicht an einem Unfall vorbei. Da, der Pik Bube, das ist der Bootsmann. Der Herz Bube, das bist du. Morgen wird der Bootsmann dir einen Gefallen tun. Wenn du was auf dem Herzen hast, verschiebe es auf Morgen. Die Herz 10 ist ein Symbol für Arme und Beine. Pass heute auf! Stoß dich nicht zu heftig! Da der Kreuz König ist der Alte. Sollte mich nicht wundern, wenn der nicht in Kürze etwas von dir will. Hast du Mist gemacht?
Und so fabuliere, phantasiere und spinne ich einen „Roman“. Logo! An Bord stößt man sich täglich, holt man sich laufend blaue Flecken. Wenn derartiges „vorher gesagt“ wird, dann wird es beachtet, dann fällt es auf oder ein, wenn es passiert. Auf dieser Masche sind meine Aussagen aufgebaut. Selektive Wahrnehmung sagt man heute wohl dazu.
Der Köder ist ausgelegt.
Der Bootsmann beißt an.
Der Bootsmann lässt sich bereits nach meiner nächsten Wache bei mir sehen. Ich habe bis 04,00 Uhr Seewache, schlafe bis 09,00 Uhr, frühstücke und gehe in meine Kammer. Die Tür wird aufgerissen. Bootsmann kommt ohne anzuklopfen ungeniert herein. „Na Willi! Ich habe gehört, du kannst die Zukunft aus den Karten lesen?“
Ich schaue ihn kalt an. Mehr Distanz kann man kaum in den Blick legen.
„Grundsätzlich ja - aber eben bin ich über dein Hereinkommen so erschrocken, dass ich das jetzt nicht kann.“
Der Bootsmann stutzt und guckt etwas irritiert: „Kannst du es später?“
„Ich denke schon!“
„Wann ist es dir recht?“
„Um 12 Uhr habe ich Wache, vorher um 11,30 Mittagessen, also um 10,30.“
„O.k., dann komme ich.“
So Kann sein Verhalten also auch sein.
Er kommt pünktlich und klopft vorher an die Tür. Gert habe ich gebeten, uns allein zu lassen und ihm auch den Grund gesagt. Gert ist zwar skeptisch, findet die Idee aber gut.
Ich nehme den Bootsmann ernst, behandele ihn respektvoll und übertreibe nichts. Der kann gar nicht den Eindruck bekommen, verarscht zu werden. Den rituellen Teil verstärke ich durch Mitwirkung des Probanden. Der muss mischen, drei Mal abheben, erneut mischen. Meine Erklärung: Die Karten müssen mit seiner Persönlichkeit vertraut werden. Ich bitte ihn, zwei Reihen selbst zu legen. Sieben Karten in einer Reihe!
Dann mache ich das Gleiche, wie Wolf gegenüber. Ich phantasiere und fabuliere Gemeinplätze. Was alles in der kleinen Welt eines Schiffes passieren kann, kenne ich. Den Fokus der Aufmerksamkeit des Bootsmannes will ich stimulieren. Als der Bootsmann auch etwas aus seiner Vergangenheit wissen will, wird es kritisch - für beide. Ich erkläre ihm, die vier Könige liegen recht seltsam, die sehen so offiziell aus. Ob der Bootsmann früher in einem Kinderheim gewesen sei, denn ich könne den Vater nicht erkennen. Außerdem, der Kreuz König wäre schließlich der Kapitän, der könne doch gar nicht sein Vater sein. Bootsmann ist blass geworden und ruft: „Aufhören mit der Vergangenheit!“ Ich mache mit dem laufenden Schiffsalltag weiter: Ob er sich vom Kapitän schon einmal scharfe Worte hat anhören müssen? In der Richtung steht irgend etwas an! usw.
Der Bootsmann ist sehr beeindruckt - später höre ich von Gert, der Bootsmann erzählt seiner Clique, der Jungmann könne ein Kartenspiel für zwei Personen, das überhaupt nicht langweilig sei. Dick war noch nicht bei mir. Gert erzählt, dass der Bootsmann nicht wünscht, dass irgend jemand der Decksmann-schaft mit mir dieses Kartenspiel macht. Wolf wäre gern noch einmal gekommen. Er traut sich aber nicht, diese Order zu unterlaufen.
Der Bootsmann verlangt, dass ich ihm täglich die Karten lege - natürlich nur als Spaß und Spiel. Hatte ich anfangs noch Skrupel, den Mann von mir abhängig zu machen, so legen die sich. Ich tue so, als sei alles nur ein dummes Kartenspiel ohne Bedeutung. Aber ich verlange als Gegenleistung, dass der Bootsmann mir rückwirkend 10 Überstunden anschreibt und dass ich ab morgen ebenfalls ganz normal, wie Gert und die anderen Kameraden Überstunden machen darf. Ich brauche schließlich einen neuen winterfesten Pulli. Das gefällt dem Bootsmann gar nicht. Er will nicht, dass meine Kontakte zur restlichen Decksmannschaft gut werden. Über weitere Überstunden brauche ich mir „keinen Kopf machen“. Er würde sie mir anschreiben, auch ohne dass sie gemacht würden. Weshalb vertraue ich eigentlich seinem Wort?
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