Sutters Begleiterin stiess ihn mit dem Ellbogen derart heftig in die Seite, dass er sich krümmte. «Es tut gut zu hören, dass es noch ehrliche Leute gibt. Jetzt kannst du mich loslassen, aber darf ich eingehängt bleiben? Ich bin Silvia Grossmann.»
«Fred Sutter,» stellte er sich seinerseits vor. «Bist du in der Forschung tätig?» Aus ihrer vorherigen Reaktion nahm er dies als gegeben an.
Sie lächelte verlegen. «Wenigstens vorläufig. Ich weiss bloss nicht, wie lange noch.»
«Postdoc ohne Resultate, Assistentin auf limitiertem Posten, Angestellte eines Pleite-Unternehmens, oder Geburt des ersten Kindes und kein Platz in der KITA?», fragte Sutter unverblümt.
«Mit dem zweiten Vorschlag liegst du richtig. Es geht um einen auslaufenden Forschungskredit, von dem auch mein Lohn bezahlt wird.» Sie zögerte nicht, Sutter ihre Lage zu schildern: Nach ihrer Dissertation in Immunologie wollte sie neue Antibiotika entwickeln. Ein Assistenzprofessor in Basel hatte die Idee aufgenommen und zusammen mit ihr einen Forschungskredit beim Nationalfonds beantragt. Sie arbeitete zwei Jahre an diesem Projekt, als ihr Chef eine Professur in Deutschland erhielt. Er wollte sie zwar mitnehmen, doch ihr Thema passte nicht ins Programm des dortigen Instituts, und sie wollte es nicht fallen lassen. Wenigstens durfte sie an der Uni weiterarbeiten, bis der Kredit in knapp einem Jahr auslief. Eine Verlängerung war ausgeschlossen, weil ein Gesuchsteller beim Nationalfonds nicht den eigenen Lohn beantragen durfte und die Universität keine Verpflichtungen eingehen wollte.
«Ich habe ähnlich Sorgen. Meinem Start-up geht das Geld auch bald einmal aus. Darauf müssen wir nachher anstossen! Aber erzähl mir von deiner Suche nach neuen Antibiotika. Das ist heute vordringlich und niemand will sich damit beschäftigen.»
Silvia erklärte, dass sie aus allen möglichen und unmöglichen Organismen Pilzen, Algen, Pflanzen und afrikanischen Froscheiern Extrakte hergestellt habe. Nun sei sie daran zu prüfen, ob der eine oder andere dieser Stoffe fähig war, das Wachstum von Bakterien zu hemmen.
Sutter hatte selbst mit Xenopus gearbeitet und erkundigte sich, weshalb sie ausgerechnet in Eiern dieser Krallenfrösche nach Antibiotika suche. Sie erklärte, dass diese Tiere sich auch in verdrecktem Wasser entwickeln konnten und eine gute Abwehr gegen Infektionen besitzen mussten. Ob diese Resistenz einem Antibiotikum zuzuschreiben war, wusste sie noch nicht. Sie hatte schon aus verschiedenen Organismen Präparate herstellen können, die das bakterielle Wachstum hemmten. Nun musste sie nachweisen, dass es sich nicht bloss um Giftstoffe handelte, die man medizinisch nicht verwenden konnte. Solche Untersuchungen waren aufwendig und mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, kaum zu bewältigen. Sie hoffte, an diesem Treffen ein Labor zu finden, mit dem sie zusammenarbeiten konnte.
Die junge Forscherin geriet in Rage: «Die Medizin hat nun neunzig Jahre lang Antibiotika für jede Kleinigkeit verwendet, Erkältungen, Ohrenschmerzen und andere Lappalien. Noch schlimmer, die Bauern füttern systematisch ihre Viecher damit. Jetzt haben sich resistente Keime entwickelt und immer mehr Leute sterben an banalen Infektionen. Natürlich werden die wenigen noch wirksamen Antibiotika jetzt vermehrt in der Schweinezucht eingesetzt und die pharmazeutische Industrie unternimmt wenig, neue Produkte zu entwickeln. Die sind nicht an Medikamenten interessiert, die leicht herzustellen sind und zu einem vernünftigen Preis abgegeben werden müssten. Pillen, die sie zu fünftausend Franken das Stück verkaufen können, sind da viel attraktiver.»
Sie waren vor dem Eingang des Hotels Les Trois Rois angekommen. In der Eingangshalle schlug Sutter vor: «Wollen wir zusammenbleiben, heute Abend? Ich sollte hier einen Freund treffen, der für dich interessant sein dürfte. Er teilt deine Ansichten und erforscht seltene Krankheiten, die für die industrielle Forschung anscheinend auch finanziell uninteressant sind. Vielleicht könnt ihr euch zusammentun.»
~
Die Ansprache zur Kongresseröffnung war kurz und knapp. Dafür war der Aperitif reichhaltig und der Champagner wurde freigiebig nachgegossen. Sutter fühlte sich wohl in der Begleitung seiner Zufallsbekanntschaft mit ihrem verschmitzten Kinderlächeln. Nur eines beunruhigte ihn. Sein Freund Peter Frei war nirgends zu sehen. Erst als er mit Silvia eine Runde durch das Vestibül drehte, sah er den Chef der «RareMed», der in Gesellschaft eines mächtigen Kolosses an einem Tisch an der Fensterfront zum Rhein sass. Sutter kannte den Giganten nur vom Sehen. Jaccard war in der Branche als zahlungskräftiger und weitsichtiger Investor bekannt. Das Gespräch schien beendet. Die zwei Männer verabschiedeten sich mit einem Handschlag. Sutter machte sich bemerkbar, und Peter steuerte sofort auf ihn zu.
«Fred, du glaubst es nicht. Jaccard hat mir soeben zugesagt, fünf Millionen in meine Projekte zu investieren – mit Aussicht auf weitere Darlehen. Wir haben schon lange davon geredet, doch er wollte sich erst später entscheiden. Doch heute, gleich bei meiner Ankunft hier im Hotel hat er mich angesprochen und erklärt, er wolle den Vertrag rasch abschliessen, natürlich vorbehaltlich einer genaueren Prüfung. Ein gewiefter Kenner der Branche habe ihm heute geschildert, wie weit die Forschung in der «RareMed» gediehen sei. Da habe er sich entschlossen, sofort einzusteigen.
Sutter glaubte, zu wissen, wer dieser Branchenkenner war, und bewunderte Jaccard für dessen Haltung. Silvia schien dasselbe zu denken und warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. Erst jetzt wurde Frei auf sie aufmerksam und sah seinen Freund fragend an.
«Entschuldigt, dass ich euch nicht vorgestellt habe. Peter Frei, Silvia Grossmann. Ich glaube, ihr habt euch viel zu erzählen, aber zuerst stossen wir auf deinen Erfolg an, Peter. Dabei liefern Silvia und ich dir eine Hintergrundinformation zum raschen Sinneswandel deines Investors und über den gewieften Kenner der Branche, der ihn dazu bewogen hat.»
Die Teilnehmer wurden in den Speisesaal gebeten und, kaum hatten die drei sich gesetzt, kam Peter auf die Sache zu sprechen, die Sutter am Herzen lag: «Wir haben schon ein paar Mal darüber geredet, aber jetzt könnte ich es mir endlich leisten: Wie viel würdest du für die Nutzung deines anhängigen Shuttle Patents verlangen? Wir haben einige Gene isoliert, von denen wir vermuten, ihre Produkte könnten eine Krankheit positiv beeinflussen. Um ihre Wirkungsweise zu prüfen, müssen wir kleine Mengen davon herstellen. Dazu möchten wir deinen Gen-Transporter mit angehefteten Genen in den Blutkreislauf von Wachteln einspritzen, und könnten dann aus den Eiern die entsprechenden Proteine isolieren.
«Ich würde dir die Nutzung am liebsten gratis überlassen, zumindest bis du saftige Gewinne erzielst, aber ich kann mir das leider nicht leisten. Ich brauche dringend Geld für meinen Laden. Wir können morgen darüber reden. Ich muss noch ein wenig nachrechnen.» Sutter hatte zwar sehr präzise Ideen bezüglich des Preises, wollte sich und den Freunden aber nicht das ganze Nachtessen mit Feilschen verderben.
Während des Essens besprachen Silvia und Peter eine mögliche Zusammenarbeit und wurden sich einig, dass Silvia ihren Kredit an der Uni aufbrauchen und danach in Peters Labor an ihrem Projekt weiterarbeiten solle. Darauf begannen die beiden zu fachsimpeln und als Aussenseiter in diesem Gebiet dachte Sutter, dass sie ebenso gut hätten über Finanzen reden oder Witze erzählen können. Nach dem Dessert machte er sich auf die Suche nach Jaccard, dem sein Patentanwalt und Vermittler die Projekte der «KOKI» zwar schon unterbreitet hatte, aber ein persönliches Gespräch würde vielleicht ein wenig Bewegung in die Sache bringen. Leider war der Investor bereits gegangen.
Es war spät, als sie sich vor dem «Les Trois Rois» von Peter verabschiedeten, der seinen Prinzipien getreu in einer preisgünstigen Unterkunft beim Spalentor übernachtete. Arm in Arm kehrten Silvia und Sutter ins «Hyperion» zurück und nach einem Schlummertrunk an der Hotelbar wurde es Zeit, schlafen zu gehen. Vor dem Lift fasste Silvia Sutter bei der Hand. «Ich bin so aufgeregt und glücklich, eine Lösung meiner Probleme gefunden zu haben, dass ich heute sicher nicht schlafen kann. Leistest du mir ein wenig Gesellschaft?»
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