Während er dies überlegte, hatte Sutter nicht mehr richtig zugehört. Er wurde erst wieder aufmerksam, als Ward behauptete, er könne mit Laborprotokollen und datierten digitalen Dokumenten belegen, dass er diese Technik einige Zeit vor Sutter entwickelt habe, doch als kultivierte Leute könnten sie sich bestimmt gütlich einigen.
Sutter überlegte fieberhaft, wie Ward seine unverschämte Behauptung untermauern wollte. Ein falsch datiertes, alt aussehendes Protokoll konnte leicht auf einer Schreibmaschine hergestellt werden. Digitale Dokumente waren noch einfacher zu manipulieren. Doch falls Ward gegen die Patentierung formell Einspruch erheben wollte, würden seine Unterlagen von den Spezialisten des europäischen Patentamts peinlich genau geprüft, die alle diese Tricks kannten. Die Einsprache würde nicht weiter behandelt, wenn Ward nicht zumindest ein notariell beglaubigtes, datiertes Dokument vorbringen konnte. Es war ziemlich sicher, dass der Parasit es gar nicht so weit treiben würde und mit seinem Bluff bloss versuchte, eine gütliche Abfindung herauszuholen.
Sutter fragte sich, ob Ward mit derart plumpen Erpressungsversuchen überhaupt je Erfolg haben konnte. Die grossen Pharmakonzerne verfügten über ausgezeichnete Anwälte, aber vielleicht zogen sie es manchmal vor, einen für sie unbedeutenden Betrag abzugeben, um keine Zeit bei der Einreichung eines Patents zu verlieren. Da kannte er sich nicht aus, aber möglich war alles. Von irgendwas musste Ward in den letzten Jahren ja gelebt haben. Wie dem auch sei, aus seinem Start-up, würde der Betrüger keinen Franken herausholen.
«Sie sind einfach lächerlich, Mister Ward, bye-bye.» Sutter schmetterte die Tür hinter sich zu, lächelte die entsetzte Empfangsdame freundlich an und wollte das Haus verlassen, als Ward den Kopf aus seinem Office steckte und ihm zuschrie: «Don't think this is over!»
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Der gentechnologische Kongress «GeneMed 2018» fand im Kongresszentrum statt. Sutter hoffte, mit seinem Vortrag einigen Investoren seine Forschungsprojekte, die wohl seit Monaten in ihren Schubladen lagen, in Erinnerung zu rufen. Er stellte seinen GT im Parkhaus ab, registrierte sich im Kongressbüro und ging danach über den Messeplatz zum Hotel Hyperion. Bei der aktuellen Lage seines Start-ups hätte er gescheiter in der Jugendherberge Unterschlupf gesucht. Doch wer mit Geschäftsleuten und Unternehmern Beziehungen anknüpfen wollte, musste einen soliden Eindruck erwecken, unabhängig davon, ob die entsprechenden Gesprächspartner nicht auch besser in einer bescheidenen Unterkunft übernachtet hätten.
Der Kongress wurde von einer professionellen Agentur organisiert, die saftige Teilnahmegebühren abkassierte. Für Vertreter von Start-ups war die Teilnahme glücklicherweise kostenlos. Die Pharmaindustrie, in deren Auftrag der Kongress organisiert wurde, wollte wohl die kleinen Forschungsstätten zumindest so lange leben lassen, bis sie brauchbare Resultate produzierten und aufgekauft werden konnten.
Im Zimmer hängte Sutter seinen dunklen Anzug und die Hemden in den Kleiderschrank, verstaute die Wäsche in der Kommode und duschte ausgiebig, um die letzten Maushaare loszuwerden. Die Eröffnung des Meetings war auf fünf Uhr angesetzt. Er stellte den Weckruf in seinem iPhone auf vier und legte sich aufs Bett in der Hoffnung, ein Nickerchen zu machen. Doch an Schlaf war nicht zu denken.
Ward war nicht das einzige Problem, das ihn beschäftigte. Viel grössere Sorgen bereitete ihm der finanzielle Zustand seiner Firma, die er vor drei Jahren gegründet hatte. Eigentlich hatte er vorgehabt, an einer Universität unbeschwert seiner Forschung nachzugehen. Am Anfang standen seine Chancen dafür gut. Mit einer Dissertation über den Transport von Proteinen von der Zelloberfläche, durchs Zytoplasma in den Zellkern hatte er seinen Doktortitel erworben und danach einen Postdoc Aufenthalt in Cambridge angetreten. Dort hatte er das Shuttle Protein entwickelt, das Gene gezielt in Froscheier transportierte – und dessen Funktionsweise ihm Ward heute freundlicherweise nochmals erklärt hatte. Diese Technik bedeutete einen beachtlichen Fortschritt im Hinblick auf die genetische Veränderung von Embryonen, doch für eine medizinische Anwendung war sie nur interessant, wenn sie auch auf Säugetiere angewendet werden konnte. Erstaunlicherweise war der Chef des Gastlabors damit einverstanden gewesen, Mäusen Zutritt in sein Amphibienheiligtum zu gewähren.
Sutters hochfliegende Pläne waren jäh geplatzt. Kaum hatte er angefangen, mit Mäusen zu arbeiten, entwickelte er eine Allergie gegen Maushaare und erlitt heftige Asthmaanfälle, wenn er auch nur in die Nähe der Tiere kam. Unter diesen Bedingungen war es unmöglich, sein Projekt weiterzuführen. Als Postdoc konnte er nicht wie gewisse Professoren in einem Büro sitzen und die Mitarbeiter die praktische Laborarbeit am anderen Ende des Gebäudes durchführen lassen. Doch dies war die einzige Möglichkeit, seine Forschung fortzuführen. Mit seiner noch geringen Erfahrung waren seine Aussichten, eine feste Forschungsstelle oder gar Professur zu erhalten minimal. Vielleicht hätte sich ein medizinisches Forschungslabor oder die Pharmaindustrie für seine Technik interessiert. Doch dort bestand die Gefahr, dass ein Projekt von einem Tag zum anderen abgesetzt wurde, weil es zu langsam voranging oder im Betrieb andere Schwerpunkte gesetzt wurden. Zudem wollte er schon immer seine Forschung selbständig planen und durchführen. Die einzige Möglichkeit, dies trotz seines Asthmas zu verwirklichen, bestand darin, ein Start-up zu gründen, in dem er das Sagen hatte.
Sutter war schon immer ein Mann der schnellen Entschlüsse gewesen. Er gab seinen Posten in England auf, kehrte nach Zürich zurück und verbrachte einige Monate damit, Patentanwälten und Industriechefs seine Idee aufzutischen und Sponsoren zu suchen. Die 140'000 Franken Bundesfördergeld reichten knapp aus, um die Vermittler zu bezahlen, und er war nahe daran aufzugeben. Da überraschte ihn sein Anwalt mit der Ankündigung, ein privater Investor sei bereit, drei Millionen zu investieren – ohne Auflagen zur Arbeitsweise, aber gegen einen saftigen Anteil an eventuellen Gewinnen oder am Übernahmepreis durch eine Grossfirma.
Während er sein Start-up einrichtete, erkrankte sein Vater und starb wenige Monate danach. Als früherer Besitzer einer kleinen Fabrik für Präzisionsinstrumente hatte er ein stattliches Vermögen angehäuft, das nun an seinen Sohn überging. Neben der Villa am Zürichberg, in der Sutter jetzt wohnte, gehörte auch das inzwischen leerstehende Fabrikgebäude an der Viaduktstrasse zur Erbmasse. Dieses war ideal dazu geeignet, ein Forschungslabor samt abgesonderten Tierställen darin unterzubringen. So stand der Gründung seiner Firma «KOKI» nichts mehr im Weg. Sutter zog die Brauen hoch. Die Bezeichnung «KOKI» klang selbst nach drei Jahren noch seltsam in seinen Ohren und er wunderte sich, dass bis heute keiner versuchte hatte, Coca-Cola bei ihnen zu bestellen. Aber so ausgefallen er auch war, der Name war zutreffend. KO und KI standen für knock-out, knock-in, die gängigen Bezeichnungen für das Ausschalten und Einfügen eines Gens im Erbgut der lebenden Zelle. Die Auswahl an möglichen Firmenbezeichnungen war sowieso nicht gross gewesen. Namen, die ihm lieber gewesen wären, wie Genetec, Medtech, Transgene, Newgene, Genecorr und viele mehr, waren bereits durch andere Firmen besetzt.
Wie bei jeder Forschung ging die Arbeit langsamer voran als erhofft. Sutter hatte nicht erwartet, nach so kurzer Zeit bereits Gewinne zu erzielen, aber auch nicht vorausgesehen, dass die vorhandenen Mittel so rasch dahinschwinden würden. Die läppischen drei Millionen Anfangskapital waren mit der Einrichtung des Labors, dem Ankauf von Apparaten, Enzymen und Chemikalien sehr rasch geschrumpft. Die Löhne für zwei Wissenschaftler, einen Techniker, der auch die Tiere betreute, und eine engagierte Sekretärin, die halbtags bezahlt wurde, aber ganztags arbeitete, hatten den Rest besorgt. Seit einigen Monaten bezahlte er die Leute und das Verbrauchsmaterial aus dem ererbten Vermögen.
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