1 ...6 7 8 10 11 12 ...27 Seine schallende Ohrfeige traf sie unvermittelt. Jodie taumelte zurück. Entsetzt blickte sie den Vater an, der seine Hand anstarrte, als gehöre sie nicht zu ihm.
„Immerhin“, presste Jodie voller Bitterkeit hervor und lehnte sich erschöpft gegen die Wand, „hast du mich endlich wahrgenommen.“ Plötzlich sah sie Tränen in seinen Augen. Im selben Augenblick wurde ihr klar, dass sie in seiner Welt tatsächlich schuldig war. Welchen Verbrechens auch immer, es musste so schwerwiegend sein, dass er es nicht schaffte, sein eigen Fleisch und Blut zu lieben.
Eine halbe Stunde später stand Jodie immer noch wie versteinert am selben Platz. Ihr Vater war längst ins Haus gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Etwas kitzelte in ihrem Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass es zu schneien begonnen hatte und sie völlig durchgefroren war. Als sie die Pforte hinter sich schloss, atmete sie tief ein. Es roch wie üblich nach Sandelholz, auch nach Weihrauch, den besonders die Mutter zu dieser Jahreszeit liebte.
Wie still es war. Unsagbar still.
Ihr Frösteln verstärkte sich. Schnell ging sie in die Stube, die sie leer vorfand. Aber wenigstens war es warm im Raum, der gleichzeitig als Esszimmer diente und als einziger beheizt wurde. Die Flammen fraßen sich knisternd durch die Holzscheite.
Sie blickte zu den Dolchen an der Wand. Eine Stelle war heller, die Form der fehlenden Waffe deutlich zu erkennen. William hatte den Dolch mitgenommen. Ob er tatsächlich damit tötete, wie es ihm nachgesagt wurde? ´Outlawˋ wurde ihr Bruder von allen genannt, auf den ein hohes Kopfgeld ausgesetzt war. Aber sollte er die Gräueltaten tatsächlich getan haben, musste es in Notwehr geschehen sein. Ansonsten hätte sie William nie gekannt.
Das Klappern von Töpfen war aus der Küche zu hören. Jodie beschloss hinüberzugehen, weil dieses Alleinsein erdrückend war. Wenige Augenblicke später nickte sie der siebzehnjährigen Muriel zu, bevor sie sich an den zerfurchten Küchentisch setzte. In der Mitte lag frischgebackenes Brot in einem geflochtenen Korb.
„Warst du heute auf dem Markt?“, fragte Jodie, um die Stille zu vertreiben.
„Wer sonst?“, kam es schnippisch von Muriel zurück, die das beschlagene Fenster öffnete. Im Nu erkaltete der dampfige Raum. „Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vors Haus, es sei denn er heißt Muriel Healy. Unsere Mary hat es sich derweil in der Küche gemütlich gemacht und ihren fetten Hintern am Feuer gewärmt.“
Die alte Köchin und Muriel verstanden sich nicht gut. Vielleicht, weil Mary schon seit über zwanzig Jahren für die Eltern arbeitete, Muriel erst seit einem halben Jahr. Obwohl die Magd entgegen ihrer sonstigen Art vor Mary kuschte, fühlte sich diese offenkundig in ihrem Terrain bedroht und führte ein umso strengeres Regiment. Außerdem war Muriel sehr gesprächig, während Mary Klatsch nicht ausstehen konnte.
„Aber bevor Ihr fragt, es gibt kaum Neues.“ Wie ein Dieb blickte Muriel zur Tür. „Der Bauernmarkt war schlecht besucht und die wenigen, die gekommen sind, hatten bei den eisigen Temperaturen sowieso keine Lust zum Plaudern.“ Muriel kam zum Tisch. „Nur die alte Stuart wusste zu berichten, dass eine Todeswelle auf uns zurollt.“
Jodie brach sich ein Stück Brot ab und schob sich den Bissen in den Mund. „Wird es zum Krieg mit England kommen?“, fragte sie kauend und musste an Malcolm denken.
„Der käme mir gelegener als die Hiobsbotschaft der Stuart. Grausige Seuchen sollen im Anmarsch sein.“ Muriel nahm ein Leinentuch vom Wäschestapel auf dem Stuhl neben sich und breitete es auf dem Tisch aus. Sie waren im selben Alter, doch die Magd hatte ihr viel voraus. Vor allem die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können.
Jodie schluckte den Bissen. „Was würde ich darum geben, an deiner Stelle zu sein.“ Sie lehnte sich zurück und spürte die harte Stuhlkante in ihrem Rücken.
„Macht Ihr Witze?“ Muriel blickte kurz zu ihr, als wollte sie sich vergewissern, nicht zu frech gewesen zu sein. Aber sie hätte sich einiges leisten können. Zu wertvoll war sie als Gesprächspartnerin, denn die Neuigkeiten vom Markt sorgten für etwas Abwechslung. Auch wenn es Jodie nicht gefiel, dass manchmal sogar über sie getratscht wurde. Viele dichteten ihr eine Geisteskrankheit an. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, da man sie im Dorf nie wieder gesehen hatte. Trotzdem störte es sie, obwohl Muriel versicherte, dass sie die Dinge stets richtigstellen würde. „Ihr lebt in einer Burg und habt keine finanziellen Sorgen. Eure Mutter hütet Euch wie ihren Augapfel und Euer Vater ist ein umgänglicher Mensch. Davon abgesehen seid Ihr mit Schönheit gesegnet. Euer langes kastanienbraunes Haar glänzt und eure Haut ist makellos. Auf meinem Gesicht hingegen sprießen Pusteln, als würden sie ein Familientreffen abhalten. Die schmale Nase habt Ihr von Eurem Vater, die grünen Augen von Eurer Mutter. Überhaupt seid Ihr meiner Herrin wie aus dem Gesicht geschnitten. Mitsamt den langen Wimpern, den geschwungenen Lippen und Eurer zarten Gestalt. Und da hadert Ihr mit Eurem Leben? Die Anwärter um Eure Hand müssen ja förmlich Schlange stehen. Ich schätze, Euer Vater hat alle Hände voll damit zu tun, den passenden Mann zu finden.“
Jodie fuhr sich mit beiden Händen über die müden Augen. „Wie soll ich je einen Mann kennenlernen? Dazu müsste ich unter die Leute kommen, einen Ball besuchen dürfen oder etwas dergleichen. Außerdem weiht mich Mutter ohnehin ständig in die Abgründe der Männer ein. Ich werde in diesem Haus als alte Jungfer sterben.“
„Eure Mutter will eben nicht den Erstbesten, sondern dass Ihr glücklich seid.“
„In ihren Augen sind alle Männer Schweine.“
Muriel lachte verhalten. „Das wird Eurem Vater sicher nicht gefallen.“
„Wie meinen Brüdern, die sie jedoch offenkundig liebt.“
„Also können nicht alle Männer schlecht sein.“
„Das habe ich ihr auch gesagt.“
„Was hat sie geantwortet?“
„Dass sie meine Brüder erzogen hat und die drei deswegen zu den Guten gehören. Vielmehr die zwei, die uns noch geblieben sind.“
„William kenne ich nicht und der kleine John ist ziemlich grün hinter den Ohren, wenn Ihr mich fragt. Will den Helden spielen, dabei ist er ein Feigling, sobald es darauf ankommt.“ Die zweideutige Miene warf allerhand Fragen auf, doch Jodie hatte andere Sorgen als dass sie genauer nachgefragt hätte.
„John eifert William nach“, verteidigte sie ihren Bruder stattdessen. „Das hat er schon immer getan. Erst recht seitdem Malcolm gefallen ist.“
„Na ja, irgendwann wird auch John ein paar Ecken und Kanten bekommen und sich nicht mehr in die Hosen machen, sobald ihn etwas erschreckt.“ Jetzt grinste sie. „Manchmal kommt er mir vor wie ein Weib, und ehrlich gesagt, er redet auch so viel wie unsereins.“
„Apropos reden: Hast du aus Mary noch immer nichts herausbekommen?“
Muriels heitere Miene verfinsterte sich. „Sie ist verschlossen wie eine Auster. Aber ich habe langsam ebenfalls das Gefühl, dass diese Mauern ein Geheimnis hüten. Eines, das auch Mary schützt wie ein Grab.“
„Woher dieser plötzliche Sinneswechsel? Bisher hast du mich nur ausgelacht.“
„Eure Mutter und Mary kleben bei jeder Gelegenheit zusammen. Und dann diese wissenden Blicke, die sie ständig tauschen … leider ist es mir nicht gelungen, eines ihrer Gespräche zu belauschen. Mary hat Ohren wie eine Fledermaus.“
„Schade. Ich hatte gehofft, dass es wenigstens dir gelingen könnte.“
Mit eingeschnappter Miene faltete Muriel das Tuch zusammen. „Immerhin habe ich es versucht, aber wenn Ihr schon so neunmalklug seid, dann macht es doch selbst!“
„Jetzt wirst du beleidigend, Muriel.“
„Entschuldigt, ein Überbleibsel meiner schlechten Erziehung.“ Die Magd griff zum nächsten Tuch. „Meine Zieheltern haben ständig in diesem Ton mit mir gesprochen, sofern sie mich nicht geschlagen haben. Ihr hättet es also tausendmal schlechter erwischen können.“
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