1 ...7 8 9 11 12 13 ...27 „Was ist mit deinen Eltern?“
„Die kenne ich nicht und wurde von einem Verwandten zum nächsten gereicht. Mehr als ein Arbeitstier bin ich nie gewesen, und so bin ich auch behandelt worden. Erst seitdem ich hier bin können die Wunden heilen, die zahllose Schläge hinterlassen haben. Ich trage saubere Kleidung und bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ausgenommen meinem Dienstherrn. Euer Vater ist gut zu mir.“
„Was ich nie in Abrede gestellt habe“, entgegnete Jodie. Natürlich fehlte es ihr an nichts. Sie trug schöne Kleider, hatte zu essen und ein Dach über dem Kopf. Doch dieses Leben war wie in Daunenfedern gepackt. Nichts drang herein, nichts nach draußen. „Mein Vater hasst mich.“ Sie rieb sich abwesend die Wange.
Muriel verschloss das Fenster. „Das bildet Ihr Euch ein.“
„Genauso wie du dir einbildest, dass wir reich sind.“
„Seid Ihr ja.“
„Wir gehören zum Landadel ohne jegliche Titel, noch dazu sind wir verarmt.“
„Trotzdem habt Ihr mehr, als Menschen wie ich je haben werden.“ Jodie zog es vor zu schweigen, denn insgeheim musste sie ihr recht geben. Zumindest in dieser Hinsicht. „Und jetzt muss ich mich sputen.“
Gedankenverloren schaute Jodie der Magd dabei zu, wie sie ein Tuch nach dem anderen zusammenlegte und aufeinanderstapelte. Als Mary zur Tür hereinrauschte, verließ sie die Küche, suchte ihre Kammer auf und betrachtete vom Fenster aus die winterliche Landschaft, bevor sie sich seufzend auf das Bett setzte.
Hellgrüne Brokatvorhänge hingen vor den Fenstern und am Himmelbett. Die Tagesdecke und der Überzug der Truhen, in denen ihre Kleider aufbewahrt wurden, waren aus rotem Brokat. Ein weinroter Teppich lag auf dem Boden, der aus dem Besitz des Großvaters stammte. Auch hier trug alles die Handschrift ihrer Mutter, die das Zimmer eingerichtet hatte. Aber was war mit ihrer eigenen? Mit ihren Wünschen und Träumen? Sehnsüchten?
„Deine Mutter braucht dich in der Küche“, hörte Jodie plötzlich die Stimme des Vaters und zuckte zusammen. Dann wandte sie sich um. „Lass sie nicht warten.“ Mit einer Kerze in der Hand stand er in der Tür. Bei jedem Atemzug flackerte die Flamme. Er wirkte erschöpft.
„Ich komme.“ Sie blieb, wo sie war.
„Das mit der Ohrfeige … ich wollte das nicht. Aber deine ständigen Fragen und Unterstellungen …“
„Unterstellungen?“, unterbrach sie ihn kaum hörbar.
„Lass uns nicht wieder damit anfangen“, bat er leise, bevor sich die Tür schloss.
Der Vollmond leuchtete am Himmel. Sein milchiges Licht hob die wenigen Möbelstücke im Schlafzimmer aus dem Dunkel. Alans gleichmäßiges Atmen war zu hören, trotzdem wusste Margarete, dass er nur so tat als würde er schlafen. Ebenso, wie sie es all die letzten Jahre getan hatte, damit er ihre Pflichten nicht einforderte. Sicherlich, einige Male war es dazu gekommen, doch im Großen und Ganzen ließ Alan sie in Ruhe. Dabei war er früher ein unersättlicher Liebhaber gewesen.
„Heute hat mich Jodie schon wieder mit ihren Fragen gequält“, drang es leise durch den Raum. Trotzdem erschrak Margarete, als hätte Alan geschrien und nicht geflüstert. Und doch, seiner Stimme hatten die Vehemenz und Härte gefehlt, die er üblicherweise an den Tag legte, sobald er über Jodie sprach. Aber vermutlich war er einfach nur müde.
„Unsere Tochter ist erwachsen“, sagte Margarete. Begleitet von einem mürrischen Ton verlagerte Alan sein Gewicht. Sie starrte auf seinen breiten Rücken. „Wunderst du dich tatsächlich, dass sie sich deine Lieblosigkeit immer weniger gefallen lässt?“ Tränen stiegen in ihre Augen. „Du kannst unserer Tochter nicht ewig die Schuld geben.“
„Ausgerechnet du machst mir Vorwürfe?“, kam es prompt zurück. Von wegen müde! „Du, die ihr ständig vor Augen hält, wie schlecht Männer sind. Die sie einsperrt wie ein Tier. Um sie vor jeglichen Übergriffen zu schützen.“
„Lieber das, als sie spüren zu lassen, dass man sie am liebsten forthaben will.“
„Wäre Jodie nicht gewesen, hättest du dich nie dazu hinreißen lassen.“
Ihr Herz zog sich zusammen. Alan hielt an dieser Aussage fest wie an einem Strohhalm. „Ich tat es unserer aller Kinder wegen.“
„Aber Jodie gab den Ausschlag.“
Diese Vorwürfe - tagein, tagaus - die das Ungeheuerliche ständig an die Oberfläche zerrten. Mitsamt den Bildern, die sie ohnehin seit damals verfolgten. Wie sehr sie George von Mar hasste! Er hatte ihr Leben zerstört. In einer einzigen Nacht. Nein, vielmehr in einer einzigen Stunde.
Blutjung war sie gewesen, als sie ihm einst auf einem Ball begegnet war. Geblendet vom Auftreten und dem jugendlichen Charme des Earl of Atholl. Ihre Eltern waren erfreut gewesen, dass er ihr den Hof machte. Sie selbst nicht weniger. George hatte Einfluss, war einer der reichsten Männer Schottlands und ein begehrter Junggeselle gewesen. Kein Mädchen auf dem Ball hätte ihm widerstanden. Nicht anders war es ihr ergangen. Noch am ersten Abend hatte sie sich hinter einer Eiche zu ihrem ersten Kuss hinreißen lassen. Ein Kuss, der sie zu den Wolken hinaufgetragen hatte. Aufregend und neu war ihr das Leben plötzlich erschienen und sie hatte sich fürchterlich erwachsen gefühlt.
Eine Woche später hatte George sie in ihrem Elternhaus aufgesucht und seinen Neffen mitgenommen. Es war ein fröhlicher Nachmittag, und wie üblich war George zuvorkommend und höflich gewesen. Das änderte sich allerdings, als er sie eines Abends besuchte und alleine vorfand. Ihre Eltern waren ausgegangen …
Seine Küsse waren fordernder geworden, wie seine fast brutalen Berührungen. Deshalb hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen und ihn mit der Ausrede zurückgewiesen, dass ein Beischlaf vor der Ehe Sünde wäre. Aber George hatte sie ausgelacht. Er war kein Mann, der ein Nein akzeptierte. In dieser Nacht hatte er sie zum ersten Mal vergewaltigt!
Danach zog sie sich zurück. Sobald er zu Besuch kam, sperrte sie sich in ihrem Zimmer ein. Ihre Eltern waren ratlos gewesen, sogar zornig auf sie und über ihre Abweisung George gegenüber. Bis sie es eines Tages nicht mehr ausgehalten und ihnen von seiner Tat erzählte hatte. Von der Panik, schwanger zu sein. Daraufhin hatte ihr Vater George bei seinem nächsten Besuch wie einen Hund davongejagt. Solltest du dich jemals wieder herwagen, werde ich dich eigenhändig umbringen, hatte er ihm gedroht. Wie mutig er gewesen war!
Das Vermögen des Vaters war im Vergleich zu Georges lachhaft, trotzdem hatte er sich schützend vor sie gestellt. Ebenso wie die Mutter. Das würde sie ihren Eltern nie vergessen, die leider kurz nach ihrer Hochzeit mit Alan starben. Bis dahin hatte George nie wieder etwas von sich hören lassen. Sogar ein befürchteter Racheakt war ausgeblieben. Aber als er damals plötzlich mit seinen Komplizen bei ihrer Burg auftauchte, war ihr bewusst geworden, dass er seine Rache nur aufgeschoben hatte. Um sie dort zu treffen, wo sie am verletzlichsten war: In ihrem Zuhause. Vor Alans Augen, und mit Sicherheit hätte er auch vor den Kindern nicht Halt gemacht. Georges Plan war aufgegangen. Er wollte ihr Leben vergiften und hatte es geschafft.
Bis zu diesem Zeitpunkt war sie glücklich gewesen. So unsagbar glücklich. Denn als Alan in ihr Leben getreten war, geriet Georges erste Vergewaltigung allmählich in den Hintergrund. Vom ersten Augenblick an hatte sie sich in Alan Wallace aus Ayrshire verliebt, dessen Berührungen sie genossen und dem sie sich voller Leidenschaft hingegeben hatte.
Doch diese Leidenschaft, sein Begehren, ihr gemeinsames Lachen - es war alles verschwunden. Jede Zärtlichkeit, jeder Kuss. George hatte mit der neuerlichen Vergewaltigung im Stall sein Ziel erreicht, aber anders als gedacht. Nicht sie dachte ständig an ihn. Alan war es, der die Tragödie nicht mehr aus dem Kopf bekam, die wie ein Geschwür in ihm wucherte. Mitsamt der Schwangerschaft, die sie festgestellt hatte, bevor Jodie über die Kellertreppe gestürzt war. Während ihre Tochter mit zwei gebrochenen Beinen im Bett gelegen hatte, ließ sie sich von einer Engelmacherin das Kind wegmachen. Danach hatte sie wochenlang unter den Nachwirkungen gelitten, an hohem Fieber und Schmerzen. Selbst da hatte es ihr Mann nicht der Mühe wert gefunden, ihr zur Seite zu stehen. Im Grunde war diese Ehe nur noch eine Farce.
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