Deftigeren Naturen, die möglicherweise auch noch zu Spielen wegen der Offenheit einladen, kann man es auch deftiger sagen: Der einzige Mensch, den Sie hier bescheißen können, sind Sie selbst.
Manchmal hat man als Therapeut Glück, dann benutzen Patienten solche Sprüche wie geflügelte Worte und schaffen auf diese Weise in Bezugsgruppen ein Klima großer Offenheit, ohne dass der Therapeut in diese Bedingungen noch zusätzlich viel Zeit in aufwändige Interventionen investieren müsste. 6
Wenn Therapeuten mit ihren Interventionen an die Einsicht und an die Entscheidungen von Patienten appellieren, muss der einsichtige und entscheidende Patient über ein Mindestmaß an relevanten Informationen verfügen. Diese sind dem Patienten im Zusammenhang mit dem Prozess der Rehabilitation zu vermitteln.
Die Transparenz bezieht sich nicht nur auf Informationen über die Störung und ihre Folgen (Motivation durch Informationen), sondern auch auf die Settingbedingungen. Dabei müssen selbstverständlich Patienten nicht ausführlich über alle innerbetrieblichen Zusammenhänge oder alle Feinheiten der Zusammenarbeit mit Kostenträgern oder Beratungsstellen aufgeklärt werden. In groben Zügen sollten die Patienten aber auf Initiative der Einrichtung informiert werden; insbesondere bei Nachfragen von Patienten sollten diese Nachfragen möglichst erschöpfend behandelt werden.
Mit diesem Prinzip wird ein ethischer Anspruch verwirklicht. Der grundsätzliche Informationsvorsprung des Therapeuten gegenüber dem Patienten soll nicht künstlich erhöht werden. Aus der Sicht des Patienten soll das Machtgefälle, das aus dem Informationsvorsprung des Therapeuten folgt, grundsätzlich verringerbar sein.
2.3 Positiv formulierte Ziele
Es wurde weiter vorne schon darauf hingewiesen, dass in Zuständen von Komplexität und Unbestimmtheit (z.B. Dörner, 1983) schlecht definierte Ziele die Komplexität von Problemen erhöhen, gut definierte dagegen die Problemkomplexität verringern.
Die Forderung der Kostenträger nach dem Therapieziel Abstinenz ist ein schlecht definiertes Therapieziel. Abstinenz ist die Abwesenheit eines Verhaltens, nämlich des Konsums von Alkohol. Es fehlt die Definition der Alternative.
In der Praxis können Therapeuten sich mit dem Vorschlag behelfen, zufriedene Abstinenz anzustreben. Die individuelle Zufriedenheit ist dann von jedem einzelnen Patienten zu definieren. Die allgemeinen Überlegungen aus der Forschung zum Lösen komplexer Probleme finden auch Niederschlag in Theorien zum psychologisch fundierten Vorgehen in der Psychotherapie. So weist z.B. Grawe (1998) im Zusammenhang mit seiner Theorie zur Konsistenz bzw. Inkonsistenz auf unterschiedliche Therapieziele hin, die nach der Zielrichtung geordnet werden können: Vermeiden oder Anstreben.
In der psycho-edukativen Veranstaltung „Problemlösetraining“ (siehe Kapitel 8.2) wird der einzelne Patient angeregt, seine Bedürfnisse und Interessen zu sichten und zu ordnen. Das negativ definierte Therapieziel „Abstinenz“, nämlich das Vermeiden des Konsums von Alkohol, kann auf diese Weise überführt werden in ein positives Ziel, nämlich das Anstreben relativer Zufriedenheit (in Abstinenz).
2.4 Authentische Erlebnisse vor induzierten Erlebnissen
Eine besondere Schwierigkeit jeder psychotherapeutischen Anstrengung besteht darin, das Gegenüber nicht nur auf der kognitiven Ebene anzusprechen. Im Allgemeinen wird es für wirkungsvoller gehalten, wenn die Kognition mit emotionalen Auswirkungen verbunden ist (siehe z.B. Grawe, 1998, 2004; Schiepek, Lambertz, Perlitz, Vogelei & Schubert, 2003; Schneider, Gödecke-Koch, Paetzold, Becker & Emrich, 2003). Wenn nicht nur das Erleben, sondern auch das Verhalten involviert ist, wird eine noch höhere Wirksamkeit erwartet. Alle Überlegungen zu Rollenspielen ruhen auf dieser Erwartung.
In der Fachklinik für Abhängigkeitsrehabilitation der Johanna-Odebrecht-Stiftung wird davon ausgegangen, dass die Wirkung solcher Erlebnisse umso größer ist, je näher sie an der Lebenswirklichkeit des Patienten ist. Deshalb wird angenommen, dass Erlebnisse des Realitätstrainings (siehe Kapitel „Realitätstraining“ Kapitel 6.6.7) wirksamer zu bearbeiten sind als vorgegebene Aufgaben, die, aus der Sicht des Patienten, relativ fern zu seiner Lebenswirklichkeit stehen. Als mindestens ebenso wirksam werden Erlebnisse im Klinikalltag angesehen. Wenn in einer aktuellen Situation aus dem Klinikalltag ein kritisches Verhalten aufgegriffen werden kann und z.B. zu diesem Verhalten alternative Verhaltensproben durchgespielt werden können, sollte diese Möglichkeit bevorzugt genutzt werden.
Die Hoffnung auf eine gute Wirkung solcher Interventionen wird abgeleitet aus dem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen kritischem Verhalten und Intervention einerseits und andererseits aus der hohen Bedeutung des kritischen Verhaltens und seiner Veränderung für den Patienten. Unverzichtbare Voraussetzung für eine günstige Bewertung im Sinne des therapeutischen Prozesses, durch den Patienten ist es, dass der Patient eine eigene Entscheidung trifft, das eigene kritische Verhalten sichtet und das eigene Verhalten über Verhaltensproben erweitert.
2.5 Minimale Intervention
Diese Argumentation von Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2000) findet Entsprechungen in dem Denkgebäude des Rechtsstaates (durch das Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist z.B. die Exekutive gehalten, zur Abwehr von Gefahren das so genannte mildeste Mittel anzuwenden). Das ist übrigens keine Errungenschaft einer modernen Verfassung; der Volksmund wusste um solche vernünftigen Vorgehensweisen schon lange (Man schießt nicht mit Kanonen auf Spatzen).
Für die Rehabilitation von Alkoholabhängigen heißt das, dass nur jeweils so viel Therapie angeboten wird, wie unbedingt nötig ist. Dieses Prinzip bezieht sich sowohl auf die Intensität der Intervention (Beratung, ambulante Therapie, Entzug, stationäre Rehabilitation) als auch auf die Dauer der Maßnahme unter der jeweiligen Intensität. Das Prinzip der minimalen Intervention bedeutet für die Praxis, dass der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten bei der Wahl der Interventionen und Maßnahmen jederzeit berücksichtigt, ob ein milderes Mittel ebenfalls Erfolg versprechend sein könnte.
Alle Überlegungen zu Interventionen innerhalb der stationären Rehabilitation sind eingebunden in die Vorgaben der Kostenträger zur Erfolgsaussicht der Maßnahme. Wenn aus fachlicher Sicht eine Maßnahme mit einer bestimmten Zeitdauer und einer bestimmten Intensität angezeigt zu sein scheint (auf dem Boden des jeweils gültigen Konzeptes), finden diese fachlichen Überlegungen jedoch ihre Grenzen in der Motivation des jeweiligen Patienten.
Ein Patient will nur eine möglichst kurze Abwesenheit aus dem gewohnten sozialen Feld hinnehmen; aus fachlicher Sicht ist aber eine längere fachliche Intervention geboten,
z.B. wegen der Hinweise auf eine verlangsamte Lerngeschwindigkeit (z.B. Abgang aus der Schule nach der achten Klasse ohne Abschluss oder Berufsausbildung als Teilfacharbeiter beendet oder wegen beidem) oder
wegen der außerordentlich belastenden Bedingungen des sozialen Feldes (z.B. Belastungen durch eine psychisch kranke Ehefrau in professioneller Behandlung, Schulden, Ausbildung der Kinder in der Sonderschule) und den daraus folgenden höheren Ansprüche an die Lernergebnisse, z.B. Fähigkeiten zur Bewältigung besonderer sozialer Schwierigkeiten.
Der individuelle Motivationszustand wird in Beziehung zu setzen sein zu einem Mindestmaß an Erfolgsaussicht der Maßnahme, wie sie von Kostenträgern gefordert wird. Grundsätzlich könnte man einen solchen Patienten wegen zu geringer Erfolgsaussicht für unsere Kombitherapie mit einer relativ kurzen stationären Aufenthaltsdauer und einer längeren ambulanten Rehabilitationsphase ablehnen. Unter Berücksichtigung dieser Überlegung kann es jedoch sinnvoll sein, auch dann einen Patienten in die stationäre Rehabilitation aufzunehmen, wenn Konzept und Erfahrungen eine längere Behandlungszeit erwarten lassen, der Patient innerlich aber nur auf eine kürzere Behandlungszeit eingestellt ist.
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