Eine solche Vorgehensweise bedeutet ebenfalls Ausübung von Macht; insbesondere wenn sie die Willenserklärungen des Patienten nicht gebührend würdigt (Antrag auf Behandlung, Freiwilligkeitserklärung, Beschreibung der Motivation im Sozialbericht, Beschreibung der Motivation im ärztlichen Gutachten, Vorgespräch, Antritt der Therapie, Unterschrift unter den Therapievertrag usw.).
Deshalb ist eine solche Vorgehensweise grundsätzlich zu vermeiden; stattdessen wird in der beschriebenen Vorgehensweise nahezu ausschließlich mit der Implikation gearbeitet, der Patient hätte sich aus eigenem Antrieb für die Aufnahme der stationären Behandlung entschieden.
Wenn ein Patient in der Vorgeschichte in einem Gerichtsverfahren Rechenschaft über ein bestimmtes Verhalten abgelegt hatte und das Gericht in einem Urteil einer Haftstrafe ausgesprochen hatte und von der Vollstreckung dieser Strafe nur unter der Auflage abgesehen hatte, dass der Verurteilte sich einer Entwöhnungsbehandlung unterzieht, liegt die Vermutung schon mal nahe, dass für diesen Patienten das Durchlaufen des psychotherapeutischen Prozesses nicht allererste Priorität haben könnte.
Erfahrungsgemäß lassen sich die intrinsischen Motivationsanteile des Patienten eher stärken, wenn man in der Einrichtung mit der Implikation arbeitet, es sei vom Patienten ausgesprochen lebensklug, den Forderungen des Gerichtes zu folgen. Grundsätzlich hätte er ja auch die Freiheit gehabt, der Bewährungsauflage nicht zu folgen und in Haft zu gehen. Der Patient könne ja prüfen, ob eine professionelle Behandlung seiner Alkoholprobleme ohnehin angestanden hätte; durch die Intervention des Gerichtes hätte sich jetzt für den Patienten die Gelegenheit gegeben, sich zu diesem Zeitpunkt für eine Behandlung zu entscheiden.
Mit einer solchen Argumentation wäre gewissermaßen die Beweislast wieder beim Patienten: Er müsste deutlich machen, dass er keine Maßnahme zur Rehabilitation möchte. Diesem Wunsch wäre konsequenterweise dann auch zu entsprechen, wenn er denn formuliert wird. Auf gar keinen Fall sehen Mitarbeiter der therapeutischen Einrichtung es als ihre Aufgabe an, eine gerichtliche Entscheidung zu vollstrecken; das ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft.
Wenn Mitarbeiter einer therapeutischen Einrichtung sich professionell damit beschäftigen, Patienten zu vermehrter eigenverantwortlicher Gestaltung ihres Lebens zu ermuntern, besteht die Gefahr, dass Sie einen Patienten vor Haft schützen wollen – dort wären ja die Bedingungen zur eigenverantwortlichen Gestaltung des Lebens außerordentlich gering. Wer die Macht der Argumente in diesem Sinne einsetzt, läuft Gefahr, vom Patienten als Einrichtung zur Haftvermeidung missbraucht zu werden. Diese Position ist unbedingt zu vermeiden.
Weniger eindeutig ist die Situation, wenn betriebliche Beratungsstellen oder Betriebsärzte im Auftrag von Arbeitgebern oder Dienstherren einen Patienten dringend zur Aufnahme einer Behandlung raten.
Manch ein Patient sieht zuerst das Machtgefälle zwischen seinem Arbeitgeber oder Dienstherrn und ihm selbst und erst an zweiter Stelle seine Chance zur Bewältigung oder Klärung eines Alkoholproblems. Aus der Sicht von Mitarbeitern einer Therapieeinrichtung kann es verführerisch sein, stellvertretend die Machtposition des Arbeitgebers oder Dienstherrn beziehungsweise seiner Repräsentanten wie z.B. betriebliche Beratungsstellen bzw. Betriebsarzt zu übernehmen – der Patient würde dann in der Einrichtung schon leichter „führbar“ sein. Aus der Sicht des beschriebenen Vorgehens ist auch diese Position von therapeutischen Mitarbeitern unbedingt zu vermeiden: Es bleibt die Entscheidung des Patienten, sich den Forderungen von außen zu beugen oder es bleiben zu lassen.
Aus der Sicht der Selbstmanagement-Therapie und aus der Sicht des beschriebenen Vorgehens kann es sogar ausgesprochen sinnvoll sein, die vermeintliche Ohnmacht des Patienten gegenüber Arbeitgeber oder Dienstherrn zu verringern, indem man ihn auf die Möglichkeit einer Rechtsberatung aufmerksam macht. Dann ist für den Patienten die Grundlage verbreitert, sich für oder gegen eine Behandlung zu entscheiden.
Die Machtausübung über Zugang zu Informationen ist ebenfalls nach Möglichkeit gering zu halten. In der Praxis wird es vermutlich nicht erreichbar sein, dass Patienten und Therapeuten über alle Belange der Therapie vollständig gleichberechtigt verhandeln; der Informationsvorsprung der therapeutischen Mitarbeiter durch Ausbildung und Erfahrung ist dafür einfach zu groß. Der Therapeut kann nur maßvoll umgehen mit seinem Informationsvorsprung und sich bemühen, dass die subjektive Sicht des Patienten möglichst wenig von Gefühlen der Ohnmacht bestimmt wird.
1.3.3 Transparenz des intendierten therapeutischen Prozesses
Eine Besonderheit der Selbstmanagement-Therapie befindet sich in dem „Sieben-Phasen-Modell“ (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2000). Danach werden zuerst kooperative Arbeitsbeziehungen aufgebaut und die Änderungsmotivation des Patienten gesichtet und stabilisiert. Erst dann findet eine intensive Auseinandersetzung mit der Störung in einer Verhaltensanalyse statt.
Für die Behandlung von Alkoholabhängigkeit wurde das Sieben-Phasen-Modell an die Bedingungen der stationären Behandlung angepasst. Die Adaption dieses Prozesses ist für jeden einzelnen Patienten jederzeit durchschaubar zu halten. Innerhalb des intendierten therapeutischen Prozesses wird systematisch der jeweilige Entwicklungsstand des einzelnen Patienten erhoben; bei der Festlegung des Entwicklungsstandes sind Patient und Therapeut gemeinsam beteiligt (siehe auch die Kapitel „Die Bezugsgruppe stellt sich vor“ im Kapitel 6.3.5, und „Der Therapieprozess“, Kapitel 6.4). Auf diese Weise kann sich jeder einzelne Patient eine Vorstellung davon machen, wie weit er in dem intendierten therapeutischen Prozess fortgeschritten ist. Er kann sich auch ein eigenes Bild davon machen, ob die noch abzuarbeitenden Teile des Therapieprozesses im vorgesehenen Zeitrahmen zu bewältigen sind.
1.3.4 Funktionale Diagnostik
Die Diagnostik im Rahmen der Selbstmanagement-Therapie zielt zuerst darauf ab, Veränderungsbereiche innerhalb eines bio-psycho-sozialen Systems zu identifizieren. Es werden Ist-Zustände erhoben.
„Die auf der Diagnostik aufbauende Therapie beabsichtigt eine Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Person“ (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2000, S. 106).
Die Autoren sehen Unterschiede zur klassischen Diagnostik: Demnach wäre Ziel und Gegenstand der klassischen Diagnostik eine mit Problemen behaftete Person; es ginge um die
Zuordnung eines Patienten zu einer nosologischen Kategorie und
aus dieser Zuordnung würden sich die Maßnahmen zur Beseitigung von Ursachen ableiten.
Die Vorteile einer funktionalen Diagnostik werden darin gesehen, dass der Patient grundsätzlich entpathologisiert wird. Der Zustand des Patienten wird als grundsätzlich veränderungsfähig gesehen.
Dem einzelnen Patienten wird mindestens implizit Verantwortung für den Veränderungsprozess zugeschrieben;
ebenso die potenzielle Fähigkeit, an dem Veränderungsprozess mitzuwirken.
Von Beginn der Behandlung an wird auf diejenigen funktionalen Zusammenhänge zwischen Störungsentwicklung und intrapsychischen Bedingungen geachtet, aus denen sich später die individuellen Therapieziele ergeben.
1.3.5 Therapeutischer Optimismus
Auch das ist keine welterschütternde, neue Erkenntnis: Wer psychotherapeutisch tätig ist, sollte selbst daran glauben, dass er gemeinsam mit dem Patienten eine Veränderung zum Besseren bewirken kann. Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2000) weisen in den theoretischen Grundlagen der Selbstmanagement-Therapie daraufhin, dass sie die von ihnen propagierten Fähigkeiten zur Selbstregulation 5als nicht angeboren, sondern prinzipiell lernbar ansehen. An diese Feststellung schließt sich das folgende Zitat an:
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