Eagle sah zu Desiderius – es fiel ihm schwer, seinen Freund auch nur in Gedanken bei einem Namen zu nennen – und legte mitleidvoll den Kopf schief.
Es war so unendlich traurig, diesen großen, starken Mann derart niedergeschlagen zu sehen, weil Eagle nicht geglaubt hatte, dass ihn irgendetwas brechen konnte.
Der Bastard senkte den Blick und hauchte bedauernd: »Es tut mir leid.«
Schwer ausatmend wandte Desiderius sich ab, nur um sich zwei Schritte entfernt wieder umzudrehen und sich vollkommen ernüchtert mit den Hintern in die Gräser fallen zu lassen.
Eagle konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was jetzt in ihm vorging.
»Es tut mir leid«, wiederholte der Bastard.
Eagle glaubte ihm. Er sah es in diesen rotbraunen Augen, die mit aufrichtigem Bedauern zu Desiderius hinüber starrten.
»Desiderius«, sagte Eagles Freund wie zur Probe, »Desi-De-Rius.« Er schnaubte über sich selbst und griff sich an den Kopf. »Das klingt, als höre ich den Namen zum ersten Mal in meinem Leben.«
Und genau deshalb wollte Eagle ihm nicht das Buch zeigen. Es würde rein gar nichts ändern, es würde nur dazu führen, dass er noch verwirrter war als zuvor. Noch verzweifelter, weil er sich nicht erinnern konnte.
Er wollte seinem Freund diese Qual ersparen.
»Wer auch immer du warst«, sagte Eagle, »spielt überhaupt keine Rolle. Wichtig ist nur, das du lebst. Dass wir alle leben.« Er warf einen kurzen Blick auf den Bastard. »Und wir befinden uns gerade ziemlich in der Scheiße, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Denn wir sitzen ohne Vorräte auf einem Berg fest. Und es wird bald dämmern.«
Desiderius nickte zwar zustimmend, doch seinen ruhelosen Augen war deutlich anzusehen, dass in seinem Kopf weiterhin großes Chaos herrschte.
»Also gut«, seufzte Eagles Freund schließlich und fing den Blick des Bastards auf. »Danke, dass du Antworten hattest.«
»Ist ja nicht so, als hättest du sie nicht aus ihm rausgeprügelt«, murmelte Eagles sarkastisch.
Die beiden anderen ignorierten ihn. Sie hielten nur miteinander Augenkontakt. Eagle bekam das ungute Gefühl, dass sie in jenem Moment einen stillen Pakt schlossen. Und das behagte ihm nicht, weil er nicht ausgeschlossen werden wollte.
»Also, ich bin Desiderius, wie du mir selbst sagtest«, er versuchte sich an einem Schmunzeln, dann zeigte er auf Eagle, »und das ist Eagle. Welchen Namen trägst du?«
Der Bastard antwortete: »Cohen.«
»Kowen?«, hakte Eagle belustigt nach. »Wie der Gott der List?«
»Gesprochen, ja. C-O-H-E-N, geschrieben. Cohen, wie der Sohn des Gottes der List, der die Sünden seines Vaters bei den Göttern wieder wettmachte.«
Eagle schnaubte amüsiert: »Soll das passend sein?«
Cohen sah ihn nur ärgerlich an.
Desiderius nahm es nickend zur Kenntnis, dann stand er wieder auf. Neugierig sah Eagle ihm nach, wie er hinüber zu dem Schwert ging und es aufhob. Was er anschließend tat, hielt Eagle für unglaublich gefährlich.
Er trat zu Cohen und reichte es ihm.
Ebenso überrascht wie Eagle, sah der Bastard auf. Glücklicherweise wollte er es nicht, sodass Eagle sich entspannen konnte.
»Nein«, lehnte Cohen ab, »es gehört ohnehin dir. Nimm es wieder an dich. Es scheint mich ohnehin abzustoßen.«
»Ich hoffe, euch beiden ist bewusst, dass es völlig egal ist, wer das Schwer nimmt«, mischte Eagle sich ärgerlich ein, »wenn wir keinen Unterschlupf finden, bevor die Nacht hereinbricht, wird uns ein einziges Schwert nicht vor den Bestien retten können.«
Mit einem geradezu schelmischen Grinsen band sich Desiderius den Gürtel der geschwungenen Klinge um und rammte sie in die Scheide. »Du fürchtest dich doch nicht etwa?«
Ach nein, nicht doch. Er liebte es geradezu, halbnackt und barfuß durch die stockfinstere Wildnis zu streifen. Nein, nein, das machte ihm überhaupt keine Angst. Von einer Raubkatze zerfleischt zu werden stand ganz oben auf seiner Liste der Möglichkeiten, wie er am liebsten abtreten würde …
Desiderius bot dem Bastard seine Hand dar. Cohen zögerte keinen Augenblick, einzuschlagen. Er wurde auf die Beine gezogen.
Die beiden argwöhnisch beobachtend, wusste Eagle nicht, was er von dem Blick halten sollte, mit dem sein Freund den Bastard musterte.
Was es auch war, es bedeutete nichts Gutes. Sie durften nämlich nicht vergessen, dass Cohen weiterhin ihr Feind blieb, der versuchen würde, sie wieder gefangen zu nehmen, wenn sie erst einmal aus der lebensfeindlichen Umgebung raus waren.
Aber Desiderius betrachtete Cohen nicht wie einen Feind.
Oh nein, ganz und gar nicht …
Er saß mit dem Gesicht zur untergehenden Sonne und hielt seine Augen geschlossen, während die roten und orangefarbenen Strahlen auf seine vom langen Winter blasse Haut trafen. Am Horizont ging, wie jeden Abend, der riesige Feuerball hinter den bewaldeten Gebirgen Carapuhrs unter, ohne Rücksicht auf jene zu nehmen, die sich vor der Einsamkeit der Nacht fürchteten.
»Darf ich mich neben dich setzen?«
Luro öffnete seine Augen und wandte das Gesicht zu Allahad um, der in einfachen Kleidern und einem leichten, dunklen Umhang neben ihm auf der Mauer stand und ihn flehentlich ansah.
Nickend rückte Luro ein Stück, um seinem Geliebten zu bedeuten, dass er seine Gesellschaft nicht ablehnte.
Mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen, nahm Allahad auf dem verlassenen Mauerstück Platz und ließ genau wie Luro die Beine hinabhängen.
Luro zog die dicke Wolldecke enger um die Schultern und starrte den Sonnenuntergang an. Nicht mehr lange und die Dämmerung würde ihr trostloses Grau über Carapuhr legen.
Allahad starrte ebenso zum Horizont hin, er schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass er tot ist.«
Es stiegen Luro wieder Tränen in die Augen. In den letzten Tagen hatte er nichts Anderes getan als geweint, nicht einmal Allahad hatte ihn trösten können.
Allahad wandte ihm das Gesicht zu. »Ich habe ihn auch verloren, Luro.« Er suchte ebenso nach Trost, und Luro kam sich schrecklich vor, weil er nicht für ihn da gewesen war.
Sie hatten ihn beide verloren, das stimmte.
Luro schloss die Augen und atmete tief durch. Leise, als hätte er keine Kraft zu sprechen, erwiderte er: »Ich weiß.«
»Es tut mir so leid.« Allahads Stimme brach, er kämpfte mit den Tränen. Er war es nun, der den Kopf hängen ließ und die Hand vor den Mund schlug.
Luro hob einen Arm und strich ihm über sein schulterlanges Haar. »Mir auch.«
In den letzten Wochen hatte er sich oft die Frage gestellt, wie das alles geschehen konnte. Er erinnerte sich noch, wie Desiderius ging, um Melecay und Karrah zu verabschieden. Desiderius war nicht lange fort, als wie aus dem Nichts der Angriff kam.
Luro wusste noch, wie er und Wexmell sich darangemacht hatten, das Chaos zu beseitigen, das Melecay und seine Männer hinterlassen hatte. Wexmell hatte einen Scherz bezüglich der Mentalität der Barbaren gemacht, an den sich Luro nicht mehr erinnern konnte, weil sich in diesem Moment ein Meuchelmörder aus dem Raum hinter Wexmell aus den Schatten gelöst und ihm den Arm um den Hals geschlungen hatte. Luro hatte noch nach dem Schwert gegriffen, als er eine Klinge in den Rücken bekam. Den Schmerz hatte er nur kurz gespürt, dann war ihm etwas über den Kopf gezogen worden. Danach war es sehr lange schwarz gewesen.
Und als er die Augen wieder öffnete, war nichts mehr wie vorher.
Allahad war bereits eine Woche vor ihm erwacht, er hatte eine schlimme Brustwunde erlitten, die Karrah heilen konnte. Ohne sie wären sie alle tot. Karrah hatte ihm erzählt, dass sie auf der Heimreise einen plötzlichen Schmerz in der Brust bekam und eine seltsame Vorahnung hatte. Sofort war sie mit Melvin und Melecay zurückgekehrt. Doch sie hatte nur noch sie drei vorgefunden. Halbtot. Nur dank ihrer Kräfte hatten sie überlebt und waren wieder aufgewacht.
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