Einige Tage später stehe ich am Schalter meiner Bank, um meinen Scheck abzuholen. 250.000 Euro. Ich bin so aufgeregt wie ein Kind am Heiligen Abend. Zappel nicht so rum, ermahne ich mich selbst, sonst ruinierst du noch alles.
„Einen schönen guten Tag, Frau Schlinger, was kann ich für Sie tun?“, werde ich von einer adrett gekleideten Frau hinter dem viel zu hohen Tresen begrüßt. Um einigermaßen auf Augenhöhe zu kommen, stelle ich mich auf meine Zehenspitzen.
So weit es geht, beuge ich mich über den Tresen und schiebe der Dame meine Losnummer zu. „Ich bin hier, um meinen Gewinn abzuholen“, raune ich ihr entgegen und komme mir dabei vor wie der schlaksige Händler aus der Sesamstraße, der den Leuten mit seinem langen Trenchcoat immer versucht, ein A zu verkaufen. " He, Du!“ – „Wer, ich?“ – „Psssst!“ – „Wer, ich?“ – „Genaaaaau…“
„Einen kleinen Moment bitte, Frau Schlinger.“ Mit meinem Zettel in der Hand verflüchtigt sich die junge Frau in den hinteren Teil der Filiale und verschwindet hinter einer weiteren Tür. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie schließlich wieder zurück und überreicht mir freudestrahlend meinen Scheck.
„Herzlichen Glückwunsch, Frau Schlinger!“
Glückselig werfe ich einen Blick auf meinen Scheck. Doch die Freude währt nicht lange.
„Entschuldigen Sie Fräulein, aber ich fürchte, Ihnen ist hier ein klitzekleiner Fehler unterlaufen.“ Mit strafendem Blick sehe ich sie an.
„Wie bitte?“ Ihre eben noch so freundliche Art verwandelt sich abrupt in Unsicherheit.
„Ich fürchte, Sie haben beim Ausstellen des Schecks ein paar Nullen vergessen.“
„Ein paar Nullen vergessen?“, wiederholt sie verunsichert, was die Situation aber auch nicht besser macht. Langsam werde ich nämlich richtig wütend. Noch einmal schiebe ich ihr meine Losnummer mit dem dazugehörigen Anschreiben entgegen.
„Es müssten 250.000 Euro sein und nicht nur 2.500 Euro. Steht hier doch. Können Sie etwa nicht lesen?“ Um meinem Unmut Nachdruck zu verleihen, klopfe ich ein paar Mal mit meinem Finger auf besagtes Dokument.
„Entschuldigung.“ Unsicher blickt sie sich hilfesuchend nach einem Kollegen um, der auch sogleich herbeieilt.
„Gibt es ein Problem?“ Fragend wandert sein Blick zwischen mir und der Dame hinter dem Tresen hin und her. Noch bevor sie etwas erwidern kann, übernehme ich die Führung.
„Allerdings. Ich habe bei Ihnen in der Lotterie gewonnen, aber Ihre Kollegin will mir nur einen Teil des Gewinns auszahlen. Hier bitte schön, sehen Sie selbst.“
Der Herr, der sich mit seinem Schild an seinem Revers als stellvertretender Filialleiter Herr Knaur ausweist, sieht sich die Dokumente noch einmal genau an.
„Entschuldigung Frau Schlinger, aber es hat alles seine Richtigkeit. Sehen Sie, mit Ihrem Los haben Sie sich für eine lebenslange Sofortrente entschieden. Monatlich 2.500 Euro.“
„Eine lebenslange Sofortrente? So ein Blödsinn! Was soll ich denn mit 2.500 Euro jeden Monat? Ich brauche das Geld sofort, und dabei wäre es hilfreich, auch den gesamten Betrag zu erhalten und nicht aufgestückelt in lebenslange Raten. Wer weiß, wie lange ich noch lebe? Da nützt mir das überhaupt nichts! Kann ja immer mal was passieren, und dann? Alles futsch und umsonst. Nein, nein, das müssen Sie ändern. Ich benötige das gesamte Geld, und zwar sofort.“
„Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Das Formular, welches Sie uns zurückgesandt haben, weist ausdrücklich aus, dass Sie sich für eine lebenslange Sofortrente entschieden haben. Ansonsten hätten Sie unten rechts ein Kreuzchen machen müssen.“
„Wie bitte? Ein Kreuzchen?“
„Ja.“
„Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, dass meine gesamte Zukunft von einem einzigen kleinen Kreuzchen abhängig ist?“
„Also, Frau Schlinger, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber 2.500 Euro jeden Monat sind doch auch eine stattliche Summe.“
„Stattlich mag ja sein, aber das hilft mir im Moment nicht weiter. Ich benötige das Geld in einer Summe. Und zwar sofort. Ansonsten ...“
Ich mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn ich Mr. Q die vereinbarte Summe in Raten zahle. Ob er sich überhaupt darauf einlässt?
Herr Knaur scheint mein Ansonsten jedoch falsch verstanden zu haben. Unauffällig schiebt er seine Kollegin beiseite und gibt ihr mit einem leichten Kopfnicken zu verstehen, dass sie gehen kann.
„Frau Schlinger, ich denke nicht, dass wir uns drohen sollten. Wir können doch vernünftig über alles reden. So wie es aussieht, liegt hier lediglich ein Missverständnis vor. Wollen wir uns vielleicht in mein Büro setzen? Ich bin sicher, wir finden eine Lösung.“
In sein Büro? Irgendwie fühle ich mich, als würde ich abgeführt. Aber sitzen wäre jetzt gar nicht mal so schlecht. Meine Beine fühlen sich plötzlich an wie aufgedröselte Lakritzschnecken. Herr Knaur scheint dies zu spüren. Er bietet mir nicht nur sein Büro, sondern auch seinen Arm an.
Erleichtert sinke ich auf den angebotenen Stuhl und bin Herrn Knaur dankbar für die kurze Pause, die er mir gewährt, indem er mir seinen Rücken zukehrt, um mir ein Glas Wasser einzuschenken.
„Vielen Dank“, bringe ich artig heraus. „Wissen Sie, das sollte wirklich keine Drohung sein. Ich hab nur fest mit dem Betrag gerechnet und weiß nun gar nicht, wie ich alles regeln soll.“
Herr Knaur setzt sich nicht hinter seinen Schreibtisch, sondern auf den Stuhl neben mir. Schon toll, was sie den jungen Leuten heutzutage alles beibringen. Verhandlungspsychologie vom Feinsten. Und das Schlimme: Es funktioniert. Hätte er hinter seinem klobigen Schreibtisch gesessen, wäre es mir leichter gefallen, ein weiteres Mal auf den Tisch zu hauen. So eine riesige Bank und Sie zucken wegen 250.000 Euro?
Nun allerdings sitzt Herr Knaur neben mir, direkt kameradschaftlich. Und so ein stattlicher Bengel. Ich will ihm ja wirklich keine Schwierigkeiten machen. Und jetzt lächelt er mich auch noch so verschwörerisch an.
„Na, Frau Schlinger, das klingt ja fast, als hätten Sie sich Ihren Ferrari direkt schon nach Gewinnbekanntgabe bestellt.“
Unsicher lächele ich zurück. Ja, so könnte man es auch formulieren. Nervös nehme ich einen Schluck aus dem Wasserglas.
„Was halten Sie von folgendem Vorschlag: Ich kopiere mir jetzt Ihre Unterlagen und werde dann einige Telefonate führen. Ich bin mir sicher, dass wir Ihnen entgegenkommen können. Leider kann ich die Entscheidung nicht allein treffen. Wenn es nach mir ginge, würde ich Ihnen einfach die fehlenden Nullen auf dem Scheck ergänzen. Aber Sie können sich ja sicher denken, dass hinter so einem Gewinnspiel ein ganzer Verwaltungsapparat steckt.“ Er lässt beide Hände auf seine Oberschenkel klatschen und springt auf. „Dann wollen wir das Getriebe mal in Gang schmeißen, oder?“
Meine Güte, auf so viel Motivation bin ich gar nicht vorbereitet. Ich merke, wie ich ihn strahlend anlächle und ihm meine Unterlagen übergebe. Im gleichen Moment könnte ich mich selbst dafür ohrfeigen. Hast du dich wieder schön um den Finger wickeln lassen, Gerda. Du bist einfach zu gutmütig!
Herr Knaur verlässt zum Kopieren das Zimmer und ich versuche verzweifelt, meinen Unmut wiederzufinden. Vergeblich, wie sich herausstellt. Aber gut, vielleicht lässt sich durch ein paar Telefonate ja tatsächlich alles aufklären. Geben wir dem netten Herrn Knaur eine Chance.
Durch diesen Gedanken versöhnt und mir meines Großmuts voll bewusst, leere ich das Wasserglas.
Wie von einem Stromschlag getroffen fahre ich zusammen als direkt neben mir das Telefon zu läuten beginnt. Mit einem dumpfen Plopp landet der Königsberger Klops unsanft wieder auf meinem Teller. Starr vor Schreck wage ich nicht zu atmen. Seit einer Woche warte ich nun schon vergebens auf eine Nachricht von Herrn Knaur.
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