Ohne die Antwort des Anwalts abzuwarten, ohne den Schwestern Zeit zu lassen, sich über ihre eigene entsetzliche Situation klar zu werden, ging sie sofort in Richtung der Tür. Es war ihr kluger Entschluss, die bevorstehende Prüfung zu bewältigen, indem sie viel tat und wenig redete. Bevor sie das Zimmer verlassen konnte, folgte ihr Mr. Clare und hielt sie auf der Schwelle zurück.
„Ich habe noch nie eine Frau um ihre Gefühle beneidet“, sagte der alte Mann. „Es wird Sie vielleicht überraschen, das zu hören, aber ich beneide Sie um die Ihren. Warten Sie! Ich habe noch mehr zu sagen. Ein Hindernis bleibt noch: das immerwährende Hindernis Frank. Helfen Sie mir, es auszuräumen. Nehmen Sie die ältere Schwester und den Anwalt mit und lassen Sie mich hier mit der jüngeren allein. Ich will wissen, aus welchem Holz sie wirklich geschnitzt ist.“
Während Mr. Clare diese Worte an Miss Garth richtete, hatte Mr. Pendril die Gelegenheit ergriffen, mit Norah zu sprechen. „Bevor ich wieder nach London fahre, möchte ich kurz mit Ihnen unter vier Augen sprechen“, sagte er. „Nach allem, was heute geschehen ist, Miss Vanstone, habe ich eine sehr hohe Meinung von Ihrer Diskretion; und als alter Freund Ihres Vaters möchte ich mir die Freiheit herausnehmen, mit Ihnen über Ihre Schwester zu sprechen.“
Bevor Norah noch antworten konnte, wurde sie in Übereinstimmung mit Mr. Clares Bitte zu dem Gespräch mit den Dienstboten gebeten. Mr. Pendril folgte natürlich Miss Garth. Als die drei draußen in der Diele waren, kam Mr. Clare zurück ins Zimmer, schloss die Tür und bedeutete Magdalen energisch, sie solle sich setzen.
Sie gehorchte schweigend. Er ging einmal im Zimmer auf und ab, die Hände in den Seitentaschen des langen, lockeren, formlosen Mantels, den er gewöhnlich zu tragen pflegte.
„Wie alt sind Sie?“, fragte er, wobei er plötzlich stehen blieb und sie über die ganze Breite des zwischen ihnen liegenden Zimmers ansprach.
„Ich bin bei meinem letzten Geburtstag achtzehn geworden“, erwiderte sie bescheiden, ohne ihn anzusehen.
„Für ein achtzehnjähriges Mädchen haben Sie einen außergewöhnlichen Mut bewiesen. Haben Sie von diesem Mut noch etwas übrig?“
Sie krampfte die Hände zusammen und rang sie heftig. Ein paar Tränen sammelten sich in ihren Augen und liefen ihr langsam über die Wangen.
„Ich kann Frank nicht aufgeben“, sagte sie schwach. „An mir liegt Ihnen nichts, das weiß ich. Aber Ihnen hat etwas an meinem Vater gelegen. Würden Sie um eines Vaters willen freundlich zu mir sein?“
Die letzten Worte erstarben in einem Flüstern; mehr brachte sie nicht heraus. Nie hatte sie so wie jetzt gespürt, in welch grenzenlosem Maße die Liebe einer Frau jedes andere Ereignis, jede Freude und jeden Kummer in sich aufnehmen kann. Nie hatte sie Frank so zärtlich mit der Erinnerung an ihre verlorenen Eltern in Verbindung gebracht wie in diesem Augenblick. Nie hatte die undurchdringliche Atmosphäre der Illusion – die Atmosphäre, die sie blind für alles gemacht hatte, was in Franks Natur schwach, selbstsüchtig und schäbig war – ihn mit einem helleren Heiligenschein umgeben als jetzt, da sie beim Vater um den Besitz des Sohnes bettelte. „Ach, verlangen Sie nicht von mir, ihn aufzugeben!“, sagte sie, wobei sie sich bemühte, Mut zu fassen, und von Kopf bis Fuß zitterte. Im nächsten Augenblick stürzte sie mit der Schnelligkeit eines Blitzes ins andere Extrem. „Ich werde ihn nicht aufgeben!“, platzte es heftig aus ihr heraus. „Nein! Und wenn tausend Väter es von mir verlangen!“
„Ich bin nur ein Vater“, sagte Mr. Clare, „und ich verlange es nicht von Ihnen.“
In dem ersten Erstaunen und Entzücken über diese unerwarteten Worte sprang sie auf die Füße, lief quer durch das Zimmer und wollte ihm die Arme um den Hals legen. Sie hätte ebenso gut versuchen können, das Haus von seinen Fundamenten zu heben. Er nahm sie bei den Schultern und drückte sie wieder auf ihren Stuhl. Seine unentrinnbaren Blicke zwangen sie zum Nachgeben; und sein dürrer Zeigefinger hob sich warnend in ihre Richtung, als würde er ein ungezogenes Kind beruhigen.
„Umarmen Sie Frank“, sagte er, „aber umarmen Sie nicht mich. Ich bin mit Ihnen noch nicht fertig. Wenn es so weit ist, können Sie mir die Hand schütteln, wenn es Ihnen beliebt. Warten Sie, und fassen Sie sich.“
Er entfernte sich von ihr. Seine Hände wanderten wieder in seine Taschen, und sein eintöniger Marsch durch das Zimmer begann von Neuem.
„Bereit?“, fragte er nach einer Weile und blieb stehen. Sie bemühte sich zu antworten. „Nehmen Sie sich noch zwei Minuten“, sagte er und nahm seinen Gang mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks wieder auf. „Das sind die Geschöpfe“, dachte er bei sich, „denen ansonsten vernünftige Männer das Glück ihres Lebens anvertrauen. Gibt es, so frage ich mich, in der Schöpfung ein anderes Objekt, das seinen Zielen so schlecht dient wie eine Frau?“
Er blieb wieder vor ihr stehen. Ihr Atem ging jetzt leichter; das dunkle Rot auf ihrem Gesicht schwand dahin.
„Bereit?“, wiederholte er. „Ja, endlich bereit. Hören Sie mir zu; und bringen wir es hinter uns. Ich verlange nicht, dass Sie Frank aufgeben. Ich verlange, dass Sie warten.“
„Ich werde warten“, sagte sie. „Geduldig und bereitwillig.“
„Werden Sie dafür sorgen, dass Frank wartet?“
„Ja.“
„Werden Sie ihn nach China schicken?“
Ihr Kopf fiel auf die Brust, und sie krampfte wieder schweigend die Hände ineinander. Mr. Clare sah, wo die Schwierigkeit lag, und steuerte augenblicklich geradewegs darauf zu.
„Ich habe nicht vor, mich mit Ihren Gefühle für Frank oder mit Franks Gefühlen für Sie zu beschäftigen“, sagte er. „Das Thema interessiert mich nicht. Ich habe aber vor, zwei einfache Wahrheiten auszusprechen. Es ist eine einfache Wahrheit, dass Sie nicht heiraten können, so lange Sie nicht genug Geld besitzen, um das Dach zu bezahlen, das Sie über dem Kopf haben, die Kleidung, mit der Sie sich bedecken, und die Lebensmittel, die Sie essen. Eine zweite einfache Wahrheit lautet: Sie können das Geld nicht auftreiben. Ich kann das Geld nicht auftreiben, und Franks einzige Chance, es aufzutreiben, besteht darin, nach China zu gehen. Wenn ich ihm sage, dass er gehen soll, wird er sich in eine Ecke setzen und heulen. Wenn ich darauf bestehe, wird er ja sagen und mich hinters Licht führen. Wenn ich noch einen Schritt weiter gehe und ihn mit eigenen Augen an Bord eines Schiffes gehen sehe, wird er mit dem Lotsenboot entwischen und heimlich zu Ihnen zurückschleichen. Das ist seine Veranlagung.“
„Nein!“, sagte Magdalen. „Das ist nicht seine Veranlagung; das ist seine Liebe zu mir.“
„Nennen Sie es, wie Sie wollen“, gab Mr. Clare scharf zurück. „Ob Schleicher oder Schätzchen, in beiden Eigenschaften ist er so glitschig, dass meine Finger ihn nicht festhalten können. Wenn ich vor ihm die Tür zuschlage, wird ihn das nicht davon abhalten, zurückzukommen. Wenn Sie vor ihm die Tür zuschlagen, schon. Haben Sie den Mut, sie zuzuschlagen? Sind Sie ihm so sehr zugetan, dass Sie ihm nicht im Wege stehen werden?“
„Zugetan! Ich würde für ihn sterben!“
„Werden Sie ihn nach China schicken?“
Sie seufzte bitter.
„Haben Sie ein wenig Mitleid mit mir“, sagte sie. „Ich habe meinen Vater verloren; ich habe meine Mutter verloren; ich habe mein Vermögen verloren – und jetzt soll ich auch noch Frank verlieren. Sie mögen Frauen nicht, das weiß ich; aber versuchen Sie doch, mir mit ein wenig Mitleid zu helfen. Ich sage nicht, dass es nicht in seinem eigenen Interesse wäre, ihn nach China zu schicken; ich sage nur, dass es hart ist – sehr, sehr hart für mich.“
Mr. Clare war taub gegenüber ihrer Heftigkeit gewesen, unempfindlich gegenüber ihren Liebkosungen, blind gegenüber ihren Tränen; aber unter dem dicken Panzer seiner Philosophie hatte er ein Herz – und das reagierte auf diesen hoffnungslosen Appell; es spürte die bewegenden Worte.
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