„Auch das wusste er.“
„Wusste er, dass die unermüdliche Güte und Freundlichkeit meines Vaters gegenüber uns beiden…“
Zum ersten Mal versagte ihr die Stimme; sie seufzte und legte die Hand ermattet an den Kopf. Norah redete beschwörend auf sie ein; Miss Garth redete beschwörend auf sie ein; Mr. Clare saß schweigend da und sah sie mit wachsendem Ernst an. Sie beantwortete die Vorhaltungen ihrer Schwester mit einem schwachen Lächeln. „Ich werde mein Versprechen halten“, sagte sie. „Ich werde niemandem Kummer bereiten.“ Mit dieser Antwort wandte sie sich wieder an Mr. Pendril und wiederholte standhaft die Frage – wenn auch mit anderen Worten.
„Wusste Mr. Michael Vanstone, dass es das große Anliegen meines Vaters war, die Versorgung für meine Schwester und mich sicherzustellen?“
„Er wusste es aus den eigenen Worten Ihres Vaters. Ich habe ihm einen Auszug aus dem letzten Brief Ihres Vaters an mich geschickt.“
„Aus dem Brief, in dem er Sie bat, um Gottes Willen schnell zu kommen und ihm von dem entsetzlichen Gedanken zu befreien, dass für seine Töchter nicht gesorgt ist? Aus dem Brief, in dem er geschrieben hat, er werde im Grab keine Ruhe finden, wenn er uns ohne Erbe zurückließe?“
„Aus diesem Brief und diese Worte.“
Sie schwieg, hielt aber die Blicke immer noch standhaft auf das Gesicht des Anwalts gerichtet.
„Ich möchte das alles in meinem Kopf festhalten, bevor ich fortfahre“, sagte sie. „Mr. Michael Vanstone wusste von dem ersten Testament; er wusste, was die Niederschrift des zweiten Testaments verhindert hat; er wusste von dem Brief und hat die Worte gelesen. Was wusste er außerdem noch? Haben Sie ihn über die letzte Krankheit meiner Mutter in Kenntnis gesetzt? Haben Sie ihm mitgeteilt, dass sie uns ihren Anteil an dem Geld hinterlassen hätte, wenn sie in Ihrer Gegenwart noch einmal ihre sterbende Hand hätte heben können? Haben Sie zu erreichen versucht, dass er sich wegen des grausamen Gesetzes schämt, das Mädchen in unserer Lage Niemandes Kinder nennt und das es ihm erlaubt, uns so zu benutzen, wie er uns jetzt benutzt?“
„Ich habe ihm alle diese Überlegungen vorgetragen. Ich habe nichts davon im Unklaren gelassen; ich habe nichts davon ausgelassen.“
Langsam streckte sie die Hand nach den Anweisungen aus und faltete sie wieder zu der Form zusammen, in der sie ihr übergeben worden waren. „Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Mr. Pendril.“ Mit diesen Worten verbeugte sie sich und schob das Schriftstück sanft über den Tisch zurück; dann wandte sie sich an ihre Schwester.
„Norah“, sagte sie, „wenn wir beide lange leben und alt werden, und wenn du jemals vergessen solltest, was wir Michael Vanstone verdanken – dann komm’ zu mir, und ich werde dich daran erinnern.“
Sie erhob sich und ging allein durch das Zimmer zum Fenster. Als sie an Mr. Clare vorüberkam, streckte der alte Mann seine Klauenfinger aus und bekam sie fest am Arm zu fassen, bevor sie sich seiner bewusst wurde.
„Was verbirgt sich hinter Ihrer Maske?“, fragte er, wobei er sie zwang, sich zu ihm hinunterzubeugen, und ihr eindringlich ins Gesicht sah. „Aus welchen Extremen der menschlichen Temperatur kommt Ihr Mut – aus der tödlichen Kälte oder der glühenden Hitze?“
Sie zuckte zurück und wandte schweigend das Gesicht ab. Jedem anderen lebenden Mann als Franks Vater hätte sie einen solchen bedenkenlosen Einbruch in ihre eigenen Gedanken übelgenommen. Er ließ ihren Arm ebenso plötzlich fallen, wie er ihn ergriffen hatte, so dass sie zum Fenster gehen konnte. „Nein“, sagte er zu sich selbst, „was es auch sein mag, die extreme Kälte ist es nicht. Umso schlimmer für sie und für alle, die zu ihr gehören.“
Eine kurze Pause trat ein. Wieder füllten das tropfende Rascheln des Regens und das beständige Ticken der Uhr die Leere des Schweigens. Mr. Pendril schob die Anweisungen wieder in seine Tasche, dachte ein wenig nach, wandte sich dann an Norah und Miss Garth und lenkte ihre Aufmerksamkeit sowohl auf die Gegenwart als auch auf die drängenden Notwendigkeiten der nächsten Zeit.
„Unsere Beratung hat sich durch schmerzliche Erwähnungen der Vergangenheit unnötig in die Länge gezogen“, sagte er. „Wir hätten uns besser damit beschäftigt, unsere Regelungen für die Zukunft zu treffen. Ich bin genötigt, noch heute Abend nach London zurückzukehren. Bitte lassen Sie mich hören, wie ich Sie am besten unterstützen kann; bitte sagen Sie mir, welche Mühen und Verantwortlichkeiten ich Ihnen abnehmen kann.“
Für den Augenblick war anscheinend weder Norah noch Miss Garth in der Lage, ihm zu antworten. Beiden waren gleichermaßen fassungslos und bestürzt über Magdalens Reaktion auf die Nachrichten, die die Heiratsaussichten zunichte machten, welche ihr Vater ihr vor noch nicht einem Monat eröffnet hatte. Sie hatten allen Mut zusammengenommen, um dem Schreck ihrer leidenschaftlichen Trauer zu begegnen oder sich der noch härteren Prüfung zu stellen und Zeugen ihrer sprachlosen Verzweiflung zu werden. Aber auf ihre unerschütterliche Entschlossenheit, die Anweisungen zu lesen, waren sie ebenso wenig vorbereitet gewesen wie auf die schrecklichen Fragen, die sie dem Anwalt gestellt hatte, oder auf ihre unnachgiebige Entschlossenheit, in ihrem Kopf alle Umstände festzuhalten, unter denen Michael Vanstones Entscheidung getroffen worden war. So stand sie am Fenster: ein undurchschaubares Rätsel für ihre Schwester, die unzertrennlich mit ihr gewesen war, und für die Gouvernante, die sie von Kindesbeinen an erzogen hatte. Miss Garth erinnerte sich daran, welche düsteren Zweifel ihr an dem Tag durch den Sinn gegangen waren, als sie Magdalen im Garten getroffen hatte. Norah blickte nach vorn auf die kommende Zeit, und das wegen ihrer Schwester mit der ersten ernsten Furcht, die sie in ihrem Leben empfunden hatte. Beide waren bisher passiv geblieben, weil sie in ihrer Verzweiflung nicht wussten, was sie tun sollten. Beide schwiegen jetzt, weil sie in ihrer Verzweiflung nicht wussten, was sie sagen sollten.
Geduldig und freundlich half ihnen Mr. Pendril, indem er zum zweiten Mal auf das Thema ihrer Zukunftspläne zu sprechen kam.
„Ich bedaure, Sie mit geschäftlichen Angelegenheiten bedrängen zu müssen“, sagte er, „obwohl Sie zwangsläufig nicht in der Lage sind, sich damit zu befassen. Aber ich muss meine Anweisungen heute Abend mit nach London nehmen. Dies betrifft an erster Stelle das schäbige finanzielle Angebot, auf das ich bereits angespielt habe. Die jüngere Miss Vanstone hat die Anweisungen gelesen und braucht keine weitere Unterrichtung aus meinem Mund. Die ältere wird mir, so hoffe ich, verzeihen, wenn ich ihr sage (was ich mich eigentlich schämen sollte, ihr zu sagen, aber es ist eine Frage der Notwendigkeit), dass die Versorgung von Mr. Michael Vanstone mit einem Angebot von einhundert Pfund für jede von ihnen beginnt und endet.“
Norahs Gesicht wurde vor Empörung dunkelrot. Sie sprang auf die Füße, als ob Michael Vanstone im Zimmer wäre und sie persönlich beleidigt hätte.
„Ich weiß“, sagte der Anwalt in dem Wunsch, sie zu schonen; „ich könnte Mr. Michael Vanstone mitteilen, dass Sie das Geld ablehnen.“
„Teilen Sie ihm mit“, brach es leidenschaftlich aus ihr heraus, „dass ich selbst dann, wenn ich am Straßenrand verhungern müsste, keinen Farthing davon anrühren würde!“
„Soll ich auch Ihre Ablehnung übermitteln?“, fragte Mr. Pendril, der sich dabei als Nächstes an Magdalen gewandt hatte.
Sie drehte sich am Fenster um, hielt aber ihr Gesicht im Schatten, indem sie dicht daneben mit dem Rücken zum Licht stand.
„Teilen Sie ihm von meiner Seite mit“, sagte sie, „dass er noch einmal nachdenken soll, bevor er mich mit hundert Pfund ins Leben entlässt. Ich werde ihm Bedenkzeit geben.“ Diese eigenartigen Worte sprach sie mit ausgeprägtem Nachdruck, und indem sie sich schnell wieder zum Fenster wandte, verbarg sie ihr Gesicht vor der Beobachtung aller, die im Zimmer waren.
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