Kapitel 2
..die machen die Grenze auf…
Es hätte mich eigentlich wie ein Blitz treffen müssen, aber ich bleibe zunächst völlig ruhig, als plötzlich die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen wird und meine Zimmernachbarin Ellen lauthals schreit: „Lisa, komm rasch. Die machen die Grenze auf“.
Ich verstehe zunächst nichts. Was hat sie gesagt? „ Lisa, komm schon, komm endlich.“
Ich lege mein Strickzeug auf das Bett und folge ihr brav in den Fernsehraum. Hier also stecken sie alle, die Erholungssuchenden. Sie starren mit ungläubigen und weit aufgerissenen Augen zu diesem kleinen Fernseher dort hinten in der Ecke dieses miefigen Clubraumes. Die Männer haben den Westkanal eingestellt. Die Kurklinik Meeresblick in Zingst an der Ostsee erlebt einen historischen Moment. Eine einzigartige Ansammlung von Menschen, die sich plötzlich schreiend und tobend in die Arme fallen, brüllen und schreien. Fremde umarmen Fremde und alle sind in diesem Augenblick eine gemeinsame Familie.
Hier ist ein wilder Haufen schreiender Menschen, verbunden im Wahnsinn der Freude.
Heute ist der 9. November 1989.
Der Tag, der die Welt verändern wird. Ich verstehe die Worte im Fernseher kaum.
Schabowski sagt: „ ... heute eine Regelung getroffen ... , die es jedem Bürger ermöglicht, über die Grenzübergänge auszureisen ... Sofort, ab heute.“
Wie??? Ab heute???? Was ist eigentlich los?
Alle hier im Fernsehraum starren auf den Bildschirm. Sie glauben nicht daran, was sie da hören, was sie da sehen. Die Grenzsoldaten und ihre Vorgesetzten stehen unschlüssig da und wissen nicht, was sie tun sollen. Halten sich zurück. Die Menschenmassen schieben sich vorwärts. Macht auf, der Schabowski hat gesagt, wir dürfen rüber. Die Menschen wollen weiter vorwärts in Richtung Schlagbaum. Sie fordern ihr Recht auf ein freies Leben. Die Berliner, am Grenzübergang Bornholmer Straße, machen den Anfang. Die Menschen drängeln, schubsen und schieben sich von hinten immer mehr in Richtung Übergang. Für die vorderen Reihen wird es langsam lebensgefährlich, und sie können dem Druck von hinten kaum noch standhalten. Endlich, die ersten Schlagbäume öffnen sich. Die Menschen tanzen hindurch in den westlichen Teil Berlins. Sie schreiten untern dem Brandenburger Tor hindurch und gehen einfach mal am Ku'damm spazieren, verbrüdern sich mit ihren Klassenfeinden, stehen auf der Berliner Mauer, singen und weinen zugleich, und:
k e i n S c h u ß f ä l l t !
Die alten Männer im Politbüro sind ohnmächtig, sind verblüfft und können nur noch zusehen, was da passiert.
So, das war's wohl mit der DDR, oder auch nicht. Ich weiß es nicht, keiner weiß es.
Heulende und schreiende Münder, die ihre Emotionen ungezügelt und hemmungslos in die große weite Welt da draußen brüllen, erschüttern mit ihrem Geschrei die Welt. Eine unbeschreibliche Kakophonie, wie sie nur Menschen herauslassen können, die endlich die Freiheit vor sich sehen und doch nicht begreifen. Die Welt steht plötzlich auf dem Kopf, und ein Wort steht im Raum: Freiheit.
Was heißt das?
Keiner weiß es genau.
„Ruhe mal, man versteht ja gar nichts“, schreit einer und schafft es tatsächlich, die wild gewordene Masse im Kurheim zum Schweigen zu bringen.
Niemand atmet mehr, alle stieren zum Fernsehkasten mit weit aufgerissenen Augen.
Keiner weiß, was jetzt passiert. Wir sind das Volk.
Die Menschen wissen, was sie wollen, sie wollen raus, haben es satt, wollen nicht mehr gehorchen, wollen ihr Recht, ihr Recht, als Mensch frei zu sein.
Die Grenzsoldaten halten ihre Waffen bereit, Spielzeuggewehren gleich, denn auch sie sind Kinder des Volkes. Nein, sie wollen kein Blut vergießen, sie wollen das gleiche, hoffen darauf, daß endlich der richtige Befehl ausgesprochen wird.
Freiheit für alle.
Freiheit - was ist das? Wie definiert man das Wort Freiheit?
Ich weiß es nicht. Kann nicht denken, starre auf die Menschen hier in diesem Zimmer, die sich gestern noch nicht kannten und heute gegenseitig abküssen wie Brüder und Schwestern. Was passiert da gerade mit uns allen? Die brüllende Menschenmasse vor dem Fernseher überrollt mich fast. Reißt mich mit, versetzt mir ein paar Schläge in die Rippen und auf die Schulter. Küsse fliegen mir zu und erschrecken mich zu Tode.
„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, und ich mittendrin. Kann mich mal einer wecken, seid ihr denn alle verrückt geworden?
Ich verkrieche mich in einer hoffentlich stillen Ecke im hinteren Teil des Zimmers und lasse mich in einen alten, ausgebeulten Sessel fallen. Mir ist schlecht, mein Herz klopft mir bis zum Halse und ich friere. Mein Gehirn spurtet zur Höchstleistung, gibt keine Ruhe. Was wird das alles für die Welt und für alle, die heute schon laut brüllen vor Freude, für Folgen haben? Die Ereignisse da draußen machen mir angst. Ungeahnte, ungeplante und unvorhergesehene Dinge werden passieren. Der Stein ist ins Rollen gebracht worden. Aktion und Reaktion. Vielleicht sitzen wir alle schon in Teufels Küche und wissen es nicht. Vielleicht gibt es Krieg.
Vielleicht einen Weltkrieg.
Was werden unsere russischen Freunde machen und die Amerikaner?
Ich habe meine Wurzeln und meine Freunde hier. Im Westen wartet keiner auf mich. Mal gucken, ich gebe es zu, das wäre großartig. Eine Reise nach Paris. Lisa auf dem Eiffelturm, irre. Träume. Träume sind Schäume. Ich knabbere an meinem Daumennagel und grübele. Bin hin- und hergerissen, zwischen Freude und Angst und Lachen und Weinen.
Deutschland, einig Vaterland. Das Unfaßbare ist geschehen.
Der Traum vieler Menschen wird heute wahr.
Die Gedanken in meinem Kopf springen von jetzt auf gestern und wieder zurück. Meine Haut juckt, und ich möchte sie mir in Fetzen vom Körper reißen. Es pocht in meinen Schläfen, und ich nehme weder diesen alten, nach Zigarettenmief riechenden Raum wahr noch die tobende Menge, die in ihren bequemen und ausgeleierten Trainingsanzügen herumspringt. Ich hocke in diesem Sessel wie ein kleines Kind.
Warum friere ich bloß so? Meine dunkelbraunen langen Haare fallen mir ins Gesicht, bedecken meine müden Augen und geben mir Schutz. Hier kann ich mich verstecken. Keiner sieht mich, und ich sehe keinen. Gut so.
Es ist nicht zu fassen. Man kann mit seinem Stempel im Paß oder auch nicht - so genau weiß das keiner hier im Moment - zumindest von Ostberlin nach Westberlin.
Ich sehe Tausende Menschen an den Grenzübergängen und ziehe meinen Hals in die Länge, um doch noch ein Stück vom Bildschirm zu erhaschen.
Jeder hier will was sehen, und es scheint, als ob die Kurfreunde in der ersten Reihe fast in den kleinen Fernsehapparat kriechen. Die Emotionen kochen plötzlich über, und Stühle fallen krachend um, als ein älterer Mann aufspringt und dabei einen vertrockneten Blumentopf und einen vollen Aschenbecher umwirft. Er greift sich an sein Herz und bricht zusammen. Eine Frau schreit markerschütternd. Gisela springt auf und stolpert über einen Sessel, und der kippt um. Sie rappelt sich auf, tritt jemandem auf dem Fußboden auf die Hand und stürmt zum Telefon.
„Der Notarzt muß her!“
Sie rennt zum Telefon und stößt grob und konsequent eine telefonierende Frau zur Seite.
„Weg da!“
Mit zittrigen Fingern wählt sie die Nummer. Nun geht alles sehr schnell. Zwei Männer packen den Mann an Armen und Beinen und tragen ihn mit sichtlicher Anstrengung zum Hauseingang. Es dauert lange, bis der Notarzt da ist. Zu lange für uns Wartende. Wie lang können fünf Minuten sein. Der Arzt kann nur noch den Tod des Mannes feststellen. Sie nehmen den Toten im Krankenwagen mit, und die Männer, die ihn getragen haben, springen ins Auto. Sie sind sichtlich erschüttert und auch die anderen Kurgäste, die mit hängenden Schultern und blassen Gesichtern dem davoneilenden Krankenwagen nachblicken, stehen wie Gipsfiguren da.
Читать дальше