Und dann? Fragezeichen in unseren Augen.
»Er«, fährt er zufrieden fort, »wusste also nach der Reinkarnation nicht mehr, dass er Krebs hat, und es war ihm völlig unerklärlich, warum er Selbstmord begangen haben könnte, und das Einzige, was ihn an seinen - für ihn ja mental sozusagen noch in der Zukunft liegenden - Freitod erinnerte, waren seine nach dem reinkarnativen Erwachen ziemlich ruinierten Bronchien gewesen, aufgrund der Abgase, die er sich in sein von innen verriegeltes Auto gepumpt hatte, und die ihm für den kläglichen, wenn auch endlosen Rest seines unwissenden Lebens eine prämortale chronische Heiserkeit aufzwangen.«
Er imitiert Heiserkeit.
»Und sein Arzt hatte ... nein, 'Haben' muss es heißen«, wiederholt er seinen Tempuswitz, »hat; es ist ein Patient, den der Arzt immer noch 'hat', weil der natürlich noch immer nicht an seinem Krebs gestorben ist! Und auch nie daran sterben wird. Bzw. nach jedem Sterben zurückkehrt ...«
Gemeinsames wohliges Gruseln. Und das heimliche Vergnügen, jede Menge Mithörer daran teilhaben zu lassen.
Dann sagt Verdun 1918 auch mal etwas: »Die können Tote jederzeit wiederbeleben, aber nicht von Krebs heilen?« Kopfschütteln.
Eine schweigsame Minute, in der wir unseren Gedanken nachgehen, die Frau gegenüber hört genauso interessiert zu wie du, und du hast das Gefühl, als wären ringsum einige Gespräche verstummt. Woher kennt dein Tischnachbar alle Details dieser Geschichte seines Bekannten, wenn sein Bekannter sie selbst nicht kennt? Du fragst ihn nicht, es ist ja auch egal. Er hat noch immer nicht angefangen zu essen, er weiß, er hat sein Publikum, und nach drei, vier Löffeln Verdun-Suppe geht es weiter:
»Die Krebstherapien hecheln der rasanten Entwicklung der Reinkarnationsmedizin hoffnungslos hinterher«, fährt er fort, »und Hecheln ist übrigens genau das, was mein Bekannter an Artikulation überhaupt nur noch zustande bringt, weil er mit Morphium vollgepumpt ist und kaum eines einzigen halbwegs klaren Gedankens fähig ist und noch immer nicht den Grund seiner Hinfälligkeit kennt, also sein Pankreasproblem. Und jetzt muss er darauf warten, dass die Gerichte eine Grundsatzentscheidung zu der Frage fällen, wie, also in welchem Zustand ein bei der Gesellschaft Versicherter auf einen Durchbruch bei der medizinischen Forschung warten muss oder darf: Tot und konserviert und ein letztes Mal gescannt, wobei man berücksichtigen muss, dass so ein eventueller Durchbruch in der Krebstherapie noch lange keinen Durchbruch in der Wiederbelebungsmedizin in Formaldehyd eingelegter menschlicher Körper nach sich zieht und er also trotz eines in Aussicht gestellten Therapieerfolges nicht mehr wiederbelebt werden kann, weil er schon zu lange eingelegt ist.«
Und weil wir ihm nicht alle folgen können, erläutert er allen, die mittlerweile zuhören: »Wobei tote menschliche Körper natürlich nicht in Formaldehyd liegen, sondern vollgepumpt mit einem das Blut ersetzenden Frostschutzmittel bei minus 198 Grad ihrer Erweckung harren, ohne natürlich tatsächlich zu harren, har har har ...«
Verdun lacht mit, wenn auch etwas gequält.
»... oder aber ein Krebspatient wird zukünftig mit aller Gewalt am Leben erhalten, was man ja mittlerweile endlos, wahrlich endlos hinauszögern kann ...«, er betont und wiederholt das 'wahrlich' wie die Erzählstimme in einem Horrorfilm, »... wahrlich, ... das Leben, will sagen, den Tod, will aber doch eigentlich 'das Leben' sagen, endlos heißt in diesem Fall eine endlose, halbkomatöse und halb übermäßig bewusste Quälerei, und wer auf diesem Gebiet begrifflich auch nur ein bisschen bewandert ist, der versteht auf einmal, wieso ein Wort wie 'Qualia', das doch eigentlich eher harmlos und sachlich den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes bezeichnet, schon so deprimierend KLINGT, als wäre es mit der Bezeichnung für Schmerz, für unerträglichen Schmerz, für nicht enden wollenden, stumpf und spitz durch alle Körperregionen rauf- und runterrasenden PERMANENTSCHMERZ etymologisch eng verwandt. Was nicht der Fall ist.«
Man erwartet so etwas wie eine Verbeugung, gar einen Tusch, doch unser Applaus bleibt aus. Nur sein hautkranker Gegenüber nickt, nickt im selben Rhythmus weiter, auch als dein Nachbar endlich schweigt und - wie man an Messer-und-Gabel-Aktivitäten auf seinem Teller beobachten kann - endlich angefangen hat zu essen. Verdun 1918 hat seine Suppe längst ausgelöffelt und nickt und nickt wie diese Hundefiguren, die man sich in den 70er Jahren ins Auto gestellt hat.
Es wird nicht gerne gesehen, wenn man die Abende alleine in seinem Zimmer verbringt, deshalb gibt es auf jeder zweiten Etage - eine Station umfasst immer zwei Etagen - eine Gemeinschaftsküche mit passabler Ausstattung und großem Esstisch. Die wird allerdings wegen der Möglichkeit, im zentralen Speisesaal auf Gesellschaftskosten zu essen, kaum genutzt. Dafür gibt es in der jeweils anderen Etage ein Wohnzimmer mit einem großen Fernseher, was das urmenschliche Bedürfnis nach familiärer Gemeinschaft nicht nur befriedigt, ersatzbefriedigt, sondern - als Teil eines übergeordneten Social-Engineering-Programms - regelrecht eingefordert. Was sich zum Beispiel darin äußert, dass man sich einigen muss, was gesehen wird. Zum Beispiel eine Casting-Show auf einem Privatsender oder - mein Favorit - die TV-Premiere von 'Transcendence' mit Johnny Depp. Andere Wünsche geraten alsbald ins Hintertreffen, am Ende zwei Fraktionen und dann das Unmögliche:
Du weißt plötzlich gar nicht mehr, was du wirklich sehen willst: die cineastische Übertreibung deiner eigenen Geschichte? Eurer aller Geschichte? Aber deiner ganz besonders? Die Bewusstseinsübertragung ins Externe, sprich in ein eigens dafür entwickeltes Computersystem? Ein Science-Fiction-Motiv, das von der Wirklichkeit mittlerweile eingeholt worden ist, oder aber singende Kinder, die die Vergleiche deiner selbst mit Computerchimären aus 'Transcendence' vergessen lassen (ich hätte ohnehin nicht die Möglichkeit, die Welt zu vernichten, schade eigentlich)? Und obwohl du dir sicher bist, dass du den Thriller sehen willst, ich, Thomas, hasse Castingshows, obwohl also in deinem Kopf alles klar ist und du genau weißt, wofür du stimmen wirst, willst oder sollst, geschieht etwas Bizarres, beinahe Dämonisches: Im Moment der Abstimmung für die Castingshow erhebt sich plötzlich deine Hand in die Höhe. Nicht direkt gegen deinen Willen, du könntest nicht sagen, dass da eine Kraft gegen deine anwirkt, dass überhaupt ein Kräftemessen stattfindet, du beobachtest vielmehr passiv, aber schlichtweg entsetzt, wie sich plötzlich der rechte Arm hebt, im wahrsten Sinne des Wortes wie von Geisterhand bewegt, es geschieht, aber was? WAS geschieht? Leon? Bist du's? Willst du diesen Mist sehen?
Ob am Ende ausschlaggebend oder nicht, nun schaust du eine Castingshow, aus Verdrossenheit schaust du mit, auch, weil du Thomas endlich über Bord werfen solltest, du schaust also zusammen mit den anderen diesen Mist, der einen BERÜHREN soll, ein werbefinanziertes Kindercasting, Kinder, die Popsongs nachsingen und Herzen bewegen; was für eine Scheiße, denkst du (denkt Thomas), mit der man da an die Glotze gezwungen wird, von wegen Scheiße, diese Herrschaften verstehen ihr Handwerk, sie spielen die Klaviatur menschlicher Gefühlsreflexe beängstigend perfekt, sie bedienen sich deiner Gefühle mit geradezu verbrecherischer Kaltblütigkeit, dass es an Gewalt grenzt, an psychische, wenn nicht physische Gewalt, der sprichwörtliche Druck auf die Tränendrüse, der geschieht hier nicht zufällig, sondern wird systematisch aufgebaut, erhöht, perfektioniert, eine Gewalt, der man sich nicht entziehen kann, nicht mal abwenden kann man sich, will man sich, nein, man starrt gebannt auf diese süßen Wesen, die so echt sind, so authentisch, wie sie die bekannten Lieder interpretieren, wie sie die Herzen der Jury bewegen, auch die Jury ist ganz und gar authentisch, und erst die Backstage wartende Familie (Familie! Familie!), alle, alle sind sie hingerissen von ihren kleinen Engeln, die so unverdorben singen und sind. Im Zuschauersaal Standing Ovations, und jeder kleine Star »einzigartig«, wie er »uns verzaubert«, und so schwer die Entscheidungen, wo doch alle, alle wie sie da ihre Leben in die Waagschale der Musik werfen, es verdient hätten, es verdient hätten, es verdient hätten. Das pausbäckige achtjährige Mädchen, das es auch wirklich drauf hat, der babyspeckige Puerto Ricaner, der mit einer sprachlichen Eloquenz Kurzanalysen über die emotionale Welt der Jurymitglieder verfasst, dass es auch den zugeknöpftesten Intellektuellen schmelzen lässt, und die frühpubertäre Wiedergeburt eines amerikanischen Blumenkindermädchens, das die Welt »wonderful« macht, nur Thomas hätte sich dem widersetzen können, nur Thomas.
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