Nun also hat Schlaggi ihre Seele wieder, oder Schlaggis Seele einen neuen Körper, nein, ihren alten Köper zurück, alte Seele in altem Körper, tot ist lediglich die Frau, die sie zwei Jahre lang gewesen war. Aber tot ist auch die Frau, die gelernt hat, für ihre existenziellen Rechte zu kämpfen, was ein anderer Kampf ist als das Spiel um Bilanzen und Dividenden. Tot ist die Frau, die in den letzten zwei Jahren innerlich gewachsen und gereift ist, die sich das Leben auf eine gänzlich neue Art erschlossen hat. Vielleicht ist die Erkenntnis, dass sie, deren ganzes Selbstbild immer eine starke Frau gewesen ist, sich an diese wirklich starke Frau niemals wird erinnern können, dass sie sie niemals kennenlernen wird, vielleicht ist das der Auslöser für ihren heftigen Weinkrampf. Vielleicht hat sie ja angefangen, die zu lieben, die sie gehasst hat, als sie sie noch gewesen ist. Die Erkenntnis des Fehlens eines traumatischen Erlebnisses ist selbst eines. Ist das nicht Jans Kernthese? Wir haben nichts vergessen, wir leiden nicht unter Amnesie, sondern unter dem physischen Verlust eines existenziellen Teils unseres Lebens.
Heulende Wölfe in der Nacht, »Ihr könnt die Augen wieder öffnen!«, sagt Jan, und als du das tust, merkst du, dass du den Kopf gesenkt hältst, dass du auf deine Oberschenkel schaust, auf eine beigefarbene Jogginghose, die dir Sylvie mitgebracht hat. Warum tragen Architekten schwarz, denkst du, und: Ich bin kein Architekt. Mehr. Und dann schielst du hinüber zu dem künstlichen Bein von Legi.
Sind wir fertig?
Nein.
»Was ist mit der Angst?«, fragt Freud, der nicht heult.
Angst vor dem Ereignis, das man schon hinter sich hat?
Die Tage und Wochen in der Reha sind redundante Kopien ihrer eigenen Selbstreferenz. Sie hängen wie nebeneinander an einer Wäscheleine, haben weder eine Reihenfolge noch lassen sie sonst ein Gefühl von Zeit zu. Und in den Nächten ist da ein Mann, der mit einer augenlöchrigen Papiermaske über die Station wankt, die Arme ausgestreckt, und der immerzu mit tiefer, kehliger Stimme ruft: »Gib mir deine Seele! Gib mir deine Seele!« Das kann nicht echt sein. Denkst du.
Aus der Therapiegruppe nimmst du ungewollt mit: Tränen, die nicht deine sind. Die Klinik hat einen zentralen Speisesaal in einer umgebauten Turnhalle aus der Kaiserzeit, hier verlieren sich die losen sozialen Bindungen wieder, entweder hat man trotzdem jemanden, oder man stellt sich allein in die Schlange an der Kasse, nachdem man sich im Essensausgabebereich, der den Charme einer Autobahnraststätte hat, seine Mahlzeit zusammengeklaubt hat. Die Halle ist zu klein, um 400 Menschen gleichzeitig aufzunehmen, darum steht auf jedem Essensgutschein (der die ökotrophologische Grundversorgung abdeckt, Extras kosten extra) eine um jeweils zwanzig Minuten versetzte Uhrzeit, sodass man entweder um 18:00 Uhr, 18:20 Uhr oder um 18:40 Uhr seine Mahlzeit bekommt, und die Kantine ab 19:00 Uhr geschlossen werden kann. Gegessen wird an langen Tischreihen, funktionales Design aus verchromtem Stahlrohr und MDF, man sitzt auf ergonomischen Integralschaum-Sitzschalen aus Polyurethan, Polstereffekt, Edelstahlrohrrahmen und auch die Farben sprechen 90% der Durchschnittsbevölkerung positiv an. Mich nicht. (Aber das auch nur, weil du bockig bist.) (Und du dich - wie dir unterstellt wird - dem Leben verweigerst.) (Wenn die wüssten ...)
Trotz der ameisenhaften Betriebsamkeit, die jedes Individuum atomisiert, bilden sich beim Abendessen kleine Grüppchen, und du erkennst Pille, die mit Schlaggi und - wer hätte das gedacht - Freud zusammensitzt, angeregte Unterhaltung. An ganz anderer Stelle tauschen Manni und Bauchschuss Metastasendetails aus (aber das glaubt nur mein eigener Defätismus, vielleicht spricht man auch über dies und das oder das Wetter). Du hast keine Lust auf Gespräch, setzt dich irgendwo anders hin und ignorierst deine Mitesser so gut es geht.
Dir gegenüber eine ältere Frau, die dich ein paar Mal ansieht und Ansätze einer Gesprächseröffnung macht, von da an konsequentes Auf-den-Teller-schauen und den Käse von den Nudeln porkeln, ich will vegan, denkst du, und dass das auch bockig ist, immerhin haben sie vegetarisch, und eigentlich macht dich der überbackene Käseplacken ungebührlich an, dabei hast du Käse nie gemocht, aber jetzt erfordert die Thomas'sche Kosttrennung die ganze Leon'sche Konzentration.
Neben dir und schräg gegenüber sitzen zwei, die sich über einen unappetitlichen Fall unterhalten, d.h. reden tut nur der neben dir Sitzende, er textet seinen Gegenüber förmlich zu. An dem Schweigenden fällt dir neben seiner extrem große Brille seine gezeichnete Gesichtshaut auf: eine vernarbte, mehrschichtige Überlagerung aus vielen längst vergangenen Schüben einer schweren Hautkrankheit, die Geschichte eines langen Krieges gegen eine übermächtige Invasion, Verdun 1918, die nicht befallenen Stellen bilden ein zerrissenes, nur noch über schmale Korridore miteinander verbundenes Flechtmuster aus weißer, glänzender Haut (glänzend, obwohl kein bisschen feist, eher hager ist des jungen Mannes Gesicht (der - von wegen jung - so alt sein dürfte, wie ich jetzt bin, Leon)). Und sein wortloses Nicken geschieht automatisch, nach jedem Löffel (er hat die Suppe) einmal, aufmerksam, aber mechanisch, während der neben dir ohne Punkt und Komma quasselt (wie er aussieht, kannst du nicht sehen, und du schaust ihn auch nicht an).
»Selbstmörder müsste die Gesellschaft laut Vertrag eigentlich nicht
erwecken«, sagt er, »sie werden aber in der Regel doch erweckt, weil alles so schnell gehen muss, nach dem Tod, wenn noch gar nicht feststeht, ob es wirklich Selbstmord war, und da sind auch die Angehörigen, die mit einstweiligen Verfügungen ihre suizidierten Verwandten wieder lebendig machen, es sei denn, es stehen Erbschaften an, dann geschieht auch schon mal das Gegenteil, dann klagen die Verwandten GEGEN die Reinkarnation. «
Und was ist mit denen, die erst Tage später gefunden werden? Verwest? Verbrannt, verstümmelt? So mancher Tod ist noch immer nicht heilbar, so viel steht fest.
Und dann berichtet er von einem, den er gekannt hatte, dann korrigiert er sich, weil 'haben' in diesem Zusammenhang nicht mehr im Präteritum benutzt werden darf (eine Begründung, die er wie einen Kalauer betont), es geht also um einen, den er KENNT, der sich umgebracht hat, und dem die Gesellschaft die Reinkarnation verweigern wollte, was aber die Kirche, zwei Sätze später sagt er: die Arbeiterwohlfahrt, und kurz drauf benennt er irgendeine humanistische Vereinigung, was aber also gewisse Kreise zu verhindern wussten, dieses Verweigern der Reinkarnation, und zwar weil so eine Weigerung, rein strafrechtlich gesehen, als unterlassene Hilfeleistung und ergo als fahrlässige Tötung zumindest gewertet werden KÖNNTE, weswegen man seinen Bekannten also ziemlich flott per einstweiliger Verfügung hat wiederbeleben müssen, mit dem absurden Nebeneffekt, dass der anschließend - zivilrechtlich - von der Gesellschaft auf eine horrende Schadensersatzforderung verklagt wurde.
»Für einen Suizid, für den er aus seiner Sicht, nämlich aus der Sicht eines drei Wochen vor seinem Tod durchgeführten Backups, gar nicht verantwortlich war. Sein Motiv war ihm zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht bekannt gewesen, der Grund sich umzubringen, eine ziemlich üble Diagnose ...«
Kunstpause, nur um dann die Diagnose für uns mithörende Laien zu konkretisieren: »Bauchspeicheldrüsenkrebs«, Blick in die Tischrunde, jedem die Zeit lassen, sich etwas darunter vorzustellen, und für alle, bei denen der Groschen immer noch nicht gefallen ist; »mit 99%iger Garantie auf einen unglaublich qualvollen Tod! Und diese Diagnose hat er erst nach seinem letzten Backup erfahren und wurde ihm diesmal - also nach seiner Reinkarnation - seitens seines Arztes - auf Druck der Gesellschaft - verschwiegen.«
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