Er wusste ganz genau, dass er in seiner vergammelten Bordbekleidung, die mehr an einen ausgeblichenen und etwas zu großen und schon abgetragenen Trainingsanzug erinnerte, seinen Sportschuhen ähnelnden Latschen und vor allem seinem Äußeren, kaum in diese von allen Schrecken abgeschirmte Welt passte. Was aber sicher noch entscheidender war, war, dass er mit seinem körperlichen Aufzug kaum zu diesen geschniegelten Leuten passte. Er war zwar einigermaßen ausgeruht an Bord seines dann versenkten Bootes gegangen, aber hatte dann so viel erleben müssen, dass sich all dieses Grauen zwar äußerlich unsichtbar für andere, aber in seinem Gesicht doch sehr deutlich eingegraben hatte. Martin Haberkorn war jetzt knapp 24 Jahre alt, er wirkte aber insgesamt älter. Erste graue Strähnen zogen sich durch seine Haare, die Falten in seinem Gesicht waren schon tief. Immerhin war er noch sehr muskulös, und auch seine Kondition war gut. Eigentlich fühlte er sich noch wie ein leistungsstarker junger Mann. Damit lag er auf seine physischen Fähigkeiten bezogen durchaus richtig, aber seine Psyche hatte schon einige ernsthafte Knackse wegbekommen. Natürlich war ihm nicht verborgen geblieben, dass er die Gelassenheit und Unbeschwertheit der Jugend schon verloren hatte. Er sah sich aber selbst als Fatalist, der noch immer aus der dicksten Tinte irgendwie schon herauskommen würde. Tatsächlich war das bislang auch so gewesen. Das Flakfallen-Desaster, der Luftangriff in Hamburg, der Untergang des Bootes - irgendwie war immer Rettung in der Nähe gewesen. Vielleicht war er wirklich davor gefeit, das Zeitliche zu früh segnen zu müssen.
Trotz allem Ärger über den abgehobenen Umgang mit ihm war ihm jetzt klar, dass er sich zu nichts zwingen lassen würde. Es war ihm mehr als deutlich bewusst, dass er wie ein Schreckgespenst daher kam und vor allem: er stank wie die Pest. Das winzige Waschbecken im Klo an Bord des Bootes mit dem bisschen Seewasserseife und dem schwachen Wasserstrahl konnte Niemandem an Bord eine vernünftige Körperpflege garantieren, und es war eine unabgesprochene Vereinbarung unter den U-Boot-Männern, dass sie eben unter ganz besonderen Verhältnissen leben und so zwangsläufig nicht zu den Saubersten zählen würden. Wenn ein Kommandant nicht aufpasste, konnte das aber durchaus üble Folgen annehmen. Auf Haberkorns Boot war es einmal zu einem Fall der Entdeckung von Sackratten gekommen und der Sani hatte alle Mühe gehabt, die Sache wieder in den Griff zu bekommen. Von Hygiene an Bord eines Bootes zu reden war ohnehin lächerlich. Alles war dem eigentlichen Zweck des Unterwasserfahrzeuges untergeordnet worden: so viele Schiffe des Gegners wie möglich zu versenken. Dass da nur Platz für zwei WC übrig geblieben war, konnte keinen wundern. Eines wurde ohnehin immer als Proviantlast gefahren. Als sich ein Matrose einmal gewagt hatte die Nummer Eins daraufhin anzusprechen, man könne doch die Verpflegung woanders im Boot verstauen, war der Oberbootsmann, ein Berliner, fast aus dem Frack gesprungen.
"Hasste n Arsch offen, du Witzfigur? Wat willste? Mehr fressen, oder besser scheißn? Du bist so blöd, dich sollte man ma unterm Kiel durchziehen! So wat is aufm U-Boot? Ick fass et nich!"
Dass das ölig stinkende Bilgewasser unter den Flurplatten hin und her schwappte, dass die Männer Abfälle dorthin beförderten, dass im Bugraum eigentlich unhaltbare enge Zustände herrschten, dass die Wachwechsel immer bedeuteten, dass sich einer der Abgelösten in die dreckige und furchtbar stinkende Wäsche eines Anderen legten, dass sich keiner manchmal wochenlang einigermaßen reinhalten konnte, das alles spielte keine Rolle. Die Männer an Bord hatten sich relativ klaglos damit abgefunden: vielleicht war es sogar besser, als in Russland irgendwo in Dreck und Kälte campieren zu müssen und von den Sowjets ständig mit den T 34 angegriffen zu werden.
Eine ganze Generation war lange auf solche Zustände vorbereitet worden. Ihnen war immer wieder eingeredet worden, dass Schwäche nicht männlich wäre – und wer wollte sich schon so als Feigling oder Versager bezeichnen lassen. Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl: das war die Bestimmung der jungen deutschen Männer, um dem Land wieder ein Gewicht in der Welt verleihen zu können. Dass sie damit schon recht weit gekommen waren bewies ein Blick auf die Landkarte, aber unübersehbar schrumpfte der deutsche Herrschaftsbereich immer mehr. Eigentlich war es für Verständige bereits zu Beginn des Einfalls in Russland und dem Scheitern der Einnahme von Moskau und Leningrad, dem panischen Rückzug und dem kraftlosen Neuantreten mit dezimierten Kräften im folgenden Jahr klar gewesen, dass bereits alle Messen für Deutschland gelesen waren. Was jetzt noch passierte war nur ein von der Führung wider besseren Wissens herausgezögerter Überlebenskampf, aber diese Leute, die den Überblick über das Große und Ganze hatten, waren allesamt feige Duckmäuser vor dem Führer, gewissenlose Karrieristen und hatten sehr wohl begriffen, dass auch ihr Leben und die Gunst von Adolf Hitler abhängen würde. Noch war der Bevölkerung mit solchen Worthülsen wie "Frontbereinigung", "Verkürzung des Abwehrbereiches" und "heldenhaften Halten" einzureden, dass es nur um momentane Ereignisse ging, aber in Wahrheit hatte sich schon eins in der Realität verfestigt: Deutschland würde diesen Krieg wegen seiner totalen personellen, materiellen Unterlegenheit und den vollkommen übersteigerten und maßlosen Kriegszielen verlieren.
Haberkorn hatte immer nur seine begrenzte Sicht auf die Entwicklung im Seekrieg gehabt, aber auch er hatte mit großer Sorge feststellen müssen, dass die Boote jetzt nahezu chancenlos waren. Was ihm seine Schulfreunde Fred Beyer und Günther Weber schrieben gab auch wenig Anlass zum Optimismus, denn sie sprachen ebenfalls von einem enormen Druck des Feindes und dem Fehlen vieler Ressourcen. Aber alle versuchten sich irgendwie selbst zu versichern, dass sich das Blatt mit den neuen und noch streng geheimen Waffen bald wieder entscheidend wenden würde. Eigentlich glaubte er nicht mehr richtig daran, aber Beyer hatte ihm von seinem "Panther" regelrecht vorgeschwärmt und warum sollte die Kriegsmarine auch nicht neue und moderne Boote erhalten.
Nachdem er sich geduscht hatte war er wieder in seine alten und abgenutzten Sachen gestiegen, und bereitete sich schon gedanklich auf das Gespräch mit dem Flottillenkommandanten vor. Er hatte sich beim Adjutanten gemeldet, und dieser war dann mit ihm in das Büro des Offiziers gegangen. Der Fregattenkapitän war fast das Ebenbild seines Unterstellten. Auch er hatte eine geringe Körpergröße, einige Kilo zu viel auf dem Leib, war mit seinen rötlichen Haaren sicher als Junge die Zielscheibe von hämischem Spott gewesen und schwitzte aus allen Poren. Sein Gesicht war rot angelaufen und Haberkorn wusste, dass der Mann seit seiner Zeit an Land in Frankreich sicher täglich zwei Flaschen Rotwein konsumierte, und wahrscheinlich öfter Gast in den guten Restaurants war. Natürlich immer mit seinem Galan an der Seite. Die beiden Männer gaben sich nicht einmal allzu viel Mühe, ihre Liaison zu verbergen. Vermutlich hatte der Kapitän einen Gönner der Führung im Hintergrund der ihm bedeutet hatte, dass alles Private keine Rolle spielen würde, wenn er denn seinen Laden nur im Griff hätte.
Haberkorn kramte in seinem Gedächtnis und dann fiel ihm ein und er erinnerte sich genau, dass der Flottillenkommandant zu denjenigen U-Boot-Männern gehört hatte, die in der Anfangszeit des Krieges mit viel Können, Ehrgeiz, Wagemut und Rücksichtslosigkeit über die Schiffe des Gegners hergefallen waren. Damals war die Abwehr des Gegners noch nicht organisiert gewesen, aber Haberkorn wusste schon sehr genau, dass die Führung eines U-Bootes eine hochkomplizierte Aufgabe war, und dass dazu enorm viel Wissen gehörte. Es war ja nicht bloß damit getan das Boot über oder unter Wasser zu bewegen, sondern so ein Mann musste viele Entscheidungen treffen und wenn es besonders eng und knifflig wurde, bei einer Wasserbombenverfolgung oder einem Angriff etwa, gab es Niemanden, der ihm bei seinen Entscheidungen helfen konnte. In solchen Augenblicken war ein Kommandant ganz auf sich allein gestellt und einige konnten nicht unterscheiden, ob ein Ritterkreuz oder das Leben von 50 Männern wichtiger war. Dieser Korvettenkapitän hatte in seiner Zeit an Bord von U-Booten mehr als 165.000 Tonnen gegnerischen Schiffsraum versenkt. Für Haberkorn war dies eine beeindruckende Leistung.
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