Beim Essen erzählte sie, was sie tagsüber im Büro erlebt hatte. Ihr fiel auf, dass er danach nur noch wenig sprach. "Warum so einsilbig?" „Was“, entgegnete er ihr darauf, „kann ein Krüppel wie ich schon erleben.”
Der Ton seiner Antwort gefiel ihr nicht. Dennoch legte sie zart ihre Hand auf die seine. "Ihm fehlt die Arbeit", dachte sie. Wenig später bat er sie, ihm morgen ein Wirtschaftsmagazin mitzubringen.
Während sie am nächsten Abend die Wohnungstür aufschloss, überlief es sie mit einem Mal heiß. Ihr fiel ein, dass sie vergessen hatte, das Magazin zu kaufen.
"Entschuldige!", sagte sie sofort nach der Begrüßung. "Bei uns ging heute alles drunter und drüber." "Verstehe", erwiderte er höhnisch, "die Arbeit geht stets vor."
"So darfst du nicht mit mir reden. Wie oft hast nicht auch du schon etwas vergessen!" Nichts davon sagte sie. Stattdessen lief sie schell in die Küche und schob geräuschvoll eine gut belegte Pizza in den Backofen.
Kaum hatte sie am nächsten Abend die Tür geöffnet, da traute sie ihren Augen nicht. Vor ihr saß ihr Freund mit einem Wecker in der Hand. "Eine halbe Stunde zu spät!", fuhr er sie an. Dabei reckte er die Hand mit dem Wecker in die Höhe. Nach einer kurzen Pause fuhr er leise fort: "Warum nicht vorher noch mit einem Kollegen ein Bier trinken? Der Krüppel kann ja warten!"
Jetzt konnte sie ihren Zorn nicht mehr länger unterdrücken. "Sieh dich doch nur einmal an", schrie sie mit hochrotem Kopf, "du sitzt hier und beleidigst mich. So kann es mit uns nicht mehr weitergehen!"
Mit einer heftigen Bewegung griff sie in ihre Tasche und zog das Magazin hervor. Äußerlich plötzlich wieder ruhig, legte sie es auf die Kommode neben ihm. „Hier“, erklärte sie, „siehst du den Grund für mein Zuspätkommen!"
Einen Augenblick lang sah er sie mit einem tückischen Lächeln an. Dann sagte er ganz langsam zu ihr: "Das perfekte Alibi!"
Unwillkürlich wich sie vor ihm zurück. Statt noch etwas zu sagen, ließ sie die Tür sprechen: Sie schlug sie mit ganzer Wucht hinter sich zu.
Womit ist der Schlitten bloß beladen? Nur einmal hatte er versucht, es herauszufinden. Dabei war er auf dem verharschten Schnee ausgerutscht und beinahe in die Tiefe gestürzt. Sosehr er sich auch wünschte, sich wieder umzudrehen, er wollte nicht noch einmal sein Leben gefährden.
Keuchend zog er den schwer beladenen Schlitten weiter den Berg hinauf. Das dicke Seil hatte seine rechte Schulter schon wund gescheuert. Obwohl er fest entschlossen war, nicht aufzugeben, spürte er: seine Kräfte ließen immer mehr nach.
Als er wieder ein Stück weitergekommen war, begann der Schnee plötzlich zu glitzern. Für einen Moment trat der Mond aus den Wolken hervor. Kurz darauf bemerkte er erstaunt, dass sich der Schlitten jetzt auf einmal ganz leicht ziehen ließ. Offenkundig war er auf ein Plateau geraten.
"Endlich!", jubelte es in ihm. Er wollte schon anhalten, als ihn plötzlich ein Schreck durchfuhr. Sein rechter Fuß trat gerade ins Leere. Er kippte nach vorn und stürzte ab. Tief unten fiel er zum Glück weich in eine dicke Schneewehe. Noch während er sich darüber wunderte, ertönte mit einem Mal ein ohrenbetäubender Lärm.
Augenblicklich schrak er hoch. Sich mit beiden Händen das Gesicht reibend, sah er wieder das Ende seines Traumes vor sich. Nicht weit von ihm war an einem Felsvorsprung der Schlitten mit seiner Last zerschellt. Er wusste nun, um was es sich bei dieser gehandelt hatte. „Ein großer Eisklotz also!“, murmelte er und stieg nachdenklich aus seinem Bett.
"Guten Morgen!", sagte er, als er einige Zeit später das Büro betrat. Die Arbeitskollegen sahen ihn erstaunt an. Noch nie hatte er sie morgens bei seiner Ankunft begrüßt.
"Du arbeitest zu viel!", sagte einer der Kollegen zu ihm. Er tat so, als sei er in eine Akte vertieft. Als alle das Büro verlassen hatten, stand er auf und ging zum Aufzug.
In einem Abstellraum griff er nach seinem Handy. Auf dem Display sah er plötzlich die Umrisse eines Briefes. Kaum hatte er ihn mit klopfendem Herzen geöffnet, da fühlte er sich wieder schmerzlich enttäuscht. Auch diesmal hatte er die von ihm so sehr gewünschte Nachricht nicht erhalten.
Mit einer heftigen Bewegung stieß er seinen Oberkörper gegen die Lehne des Drehstuhls. Darauf schaute er zum Fenster hinaus. „Wie zum Hohn!“, dachte er. Keine Wolke trübte den strahlend blauen Himmel.
„Ich rufe dich an“, hörte er sie erneut mit ihrer dunklen Stimme sagen. Kurz bevor sie sich vor zwei Tagen voneinander verabschiedet hatten, hatte er ihr seine Visitenkarte gegeben. Kennengelernt hatte er sie auf der Party eines Bekannten.
Nach der Mittagspause schaute er im Büro eine Weile mit abwesendem Blick auf die vor ihm liegende Akte. Abermals sah er die Frau vor sich. Zu ihren langen, blonden Haaren hatte sie zwei glänzende, goldene Ohrringe getragen.
Dann, plötzlich, griff er nach seinem Handy. Doch wieder hatte ihn seine Hoffnung getrogen. Nicht sein Handy hatte geklingelt, sondern das seines Arbeitskollegen vor ihm.
Er sah, dass sich am strahlend blauen Himmel immer noch keine Wolke zeigte. „Er verhöhnt mich also immer noch“, dachte er und öffnete endlich die Akte. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte sie kaum lesen. In einem fort verschwammen ihm die Buchstaben vor den Augen.
Sich schließlich von der Akte abwendend, bemerkte er, dass eine Fliege reglos an der Scheibe hing. Auf der Fensterbank darunter entdeckte er noch eine weitere. Tot auf dem Rücken liegend, waren ihre vielen Beinchen ineinander verhakt. Eine Zeitlang konnte er den Blick davon nicht lösen.
Dann jedoch erhob er sich von seinem Platz und fing die noch lebende Fliege behutsam ein. Als er sie nach draußen geworfen hatte, sah er, wie sie immer tiefer hinabfiel. Doch kaum hatte sie sich schließlich gefangen, schraubte sie sich rasch ein Stück weit hoch und flog mit einer wellenförmigen Bewegung davon.
Wieder an seinem Schreibtisch, fasste er plötzlich einen Entschluss. „Lebewohl!“ hämmerte er aufs Display seines Handys und freute sich. Er konnte die Buchstaben wieder gut lesen.
Laut schrammte das Schiff an etwas Hartem entlang. Ein Aufprall war vorhergegangen.
Als wir uns besorgt vor der Brücke versammelt hatten, sprach der Kapitän: „Wir haben gerade ein Wrack gestreift. „Doch kein Grund zur Beunruhigung! Das Leck“, sagte er, „wird sich leicht verstopfen lassen.“
„Leicht?“, wiederholte ich ungläubig. Darauf musterten mich einige der Umstehenden mit abschätzigen Blicken.
Der Kapitän, ein beleibter, älterer Mann, betonte noch, bis zum Hafen sei es nicht mehr weit.
Schon bald zeigte sich deutlich: das Schiff sank tiefer. Wieder wandte sich der Kapitän an uns. Leider, begann er, sei das Leck größer, als sie gedacht hätten. Dennoch bestehe auch weiterhin kein Grund zur Besorgnis. „Die Pumpen“; sagte er mit erhobener Stimme, „sind ganz neu.“
„Fragt sich nur, ob sie auch stark genug sind“, dachte ich laut. Ich hatte meinen Satz kaum beendet, als mich einer anfuhr. „Immer musst du das letzte Wort haben!“ „Richtig!“, riefen all die, die meine Äußerung gehört hatten.
Statt sich zu heben, senkte sich das Schiff mit der Zeit noch weiter ins Meer.
Erneut trat der Kapitän deshalb auf die Brücke. Die Pumpen, teilte er uns mit, hätten sich leider als nicht ganz so leistungsfähig herausgestellt, wie sie alle angenommen hätten. Doch er sei sich sicher: den Hafen könnten sie trotzdem noch aus eigener Kraft erreichen.
Ob er nicht vorsorglich die Küstenwache informiert habe, fragte ich ihn vor der Mannschaft. „Nein!“, rief er und sah mich grinsend an. Er wolle sich doch nicht, sagte er, lächerlich machen.
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