Yanzi LI
allein bleibende Kinder
Chinas einsame Kinder
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Yanzi LI allein bleibende Kinder Chinas einsame Kinder Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Geburt
2. Ein Kind Politik
3. Nacht des Dorfes
4. Hochzeit des alten Singles
5. Die Götter-und Gespensterglaube
6. Frühlingsfest
7. Die Eltern waren nicht mehr zu Hause
8. Allein
9. Bittere „Freiheit“
10. Neues Leben in der Stadt
11. Die Schicksale
12. Glückliche Zeit
13. In die Hölle des Internats gefallen
14. Springen
Impressum neobooks
Anders als in westlichen Familien hatte meine Geburt als zweites Kind meinen Eltern kein Glücksgefühl beschert. Warum? Ich war ein Mädchen.
Ich wurde in den 1980er Jahren auf dem Land in Zentralchina in dem großen Dorf Shunhe geboren. Meine Eltern waren traditionelle chinesische Bauern: fleißig, konservativ, weibliche Nachkommen unerwünscht.
Meine Mutter war das älteste von sechs Geschwistern. Die Gesundheit meiner Oma war schon angeschlagen, als meine Mutter 12 Jahre alt war. Sie war als älteste Schwester auch Ersatzmutter für ihre jungen Geschwister. Mein Opa konnte zwar durch seinen Beruf als Schmied ein bisschen Geld verdienen, welches aber meistens für die Behandlung meiner Oma im Krankenhaus verwendet werden musste. Meine Mutter hatte weder Zeit noch Geld um in die Schule zu gehen. Natürlich war es auch meines Opas Meinung, dass es für Mädchen umso besser ist, je weniger sie wissen. Deshalb war meine Mutter nicht einen einzigen Tag lang in der Schule und konnte dadurch nicht lesen und schreiben. Meine Mutter hat das später schwer bereut, da sie bis heute noch eine völlige Analphabetin ist. Das war auch ein wichtiger Grund, weshalb meine Mutter darauf beharrte uns auf die Schule zu schicken.
Mein Vater hatte zwei ältere Schwestern und als er 17 Jahre alt war ist sein Vater gestorben. Er hatte zwar erfolgreich ein Gymnasium am Land abgeschlossen, aber wegen der Kulturrevolution und weil mein Opa weder Geld noch genügend Einfluss hatte, konnte mein Vater leider kein Studium beginnen. Wohl oder übel begann er eine Lackiererlehre, da ein Verwandter meiner Oma ein guter Lackierermeister war. Natürlich hatte mein Vater das Talent für diesen Beruf: Geduld und Genauigkeit. Während der Erntezeit arbeitete er auf den Feldern seiner Eltern und ansonsten ist er zusammen mit seinem Meister in der Stadt oder anderen Dörfern. Meine Oma hatte sich nie um die Felder gekümmert. Warum? Sie war ein Fräulein mit Lotosfüßen und stammte aus einer traditionellen chinesischen Arztfamilie. Im alten China wurden die Mädchen ab dem siebenten oder achten Lebensjahr gezwungen ihre Füße in besonderer Weise zu formen um damit später eine gute, sympathische, reiche Schwiegerfamilie finden zu können. Mit zwei langen Stoffbändern wurden die vier kleinen Zehen unter die Fußsohle gebunden. Die weichen Knochen der Mädchen verformten sich über die Jahre so weit, dass die Vorfüße schließlich kegelförmig nach vorne zusammenliefen. Je kleiner der Fuß wurde, desto mehr entsprach es dem Schönheitsideal. Wegen der japanischen Invasion im zweiten Weltkrieg, kam sie auf das Land und heiratete ihren zweiten Mann, meinen Opa.
Meine Eltern lernten sich durch einen Kuppler kennen. Nur zweimal vor der Hochzeit hatten sie sich getroffen. Die ersten fünf Jahre nach der Heirat, wohnten sie mit meiner Oma gemeinsam in unserem kleinen Bauernhof. Es gab zwei Häuser, ein altes und ein modernes Haus. Der obere Teil der Wände des alten Hauses, auch Nord-Haus genannt, wurde aus einer Mischung Lehm und Stroh gebaut. Der untere Teil bestand aus blauen Ziegeln und war ca. einen Meter hoch. In dem einzigen großen Raumwohnte meine Oma. Nur sehr wenige Häuser wurden damals komplett aus blauen Ziegeln gebaut, weil das viel mehr Geld kostete als Häuser aus Lehm und Stroh. Das neue Haus wurde extra für die Hochzeit meiner Eltern gebaut und bestand aus roten Ziegeln, nur war es viel kleiner als das alte Haus. Es wurde auch West-Haus genannt. Meine Eltern hatten hier bis ich vier Jahre alt war gewohnt.
Die Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter in China stellte fast immer eine heikle Angelegenheit dar. Bei meiner Mutter und Oma war das nicht anders. Nach meiner Geburt verschärfte sich die Problematik noch zusätzlich. Meine Oma bekrittelte, dass meine Mutter keinen Jungen auf der Welt bringen konnte. Sie suchte frei nach einem chinesischen Sprichwort „Knochen in den Eiern“ (mit Nachdruck ein Problem suchen). Meine Mutter konnte diese Sticheleien nicht immer stumm ertragen, weshalb es öfter Streitereien mit meiner Oma gab. Es wurde einmal so schlimm, dass die Familien meiner Mutter und meines Vater zum Streitschlichten geholt wurden. Seitdem haben sich meine beiden Großmütter nie mehr getroffen und kein Wort mehr miteinander gewechselt.
Als ich ein Baby war, hatte niemand Zeit und Lust auf mich aufzupassen. Obwohl eine Oma im Nord-Haus wohnte, hat sie nie einen Blick auf mich geworfen. Ich musste den ganzen Tag nur in meinem Elternbett bleiben. Damit ich nicht auf den Boden fallen konnte, fabrizierte meine Mutter mittels zweier Stühle ein einfaches Gitter neben dem Bett. Bis meine Mutter zurück von der Feldarbeit kam, hatte ich schon den ganzen Körper mit eigenem Kot vollgeschmiert.
Bis ich 3 Jahre alt war, konnte ich nicht wie andere Kinder normal gehen. Meine Mutter hatte fürchterliche Angst, dass ich behindert war. Über meine Laufunfähigkeit hätte man sich aber nicht wundern brauchen, da ich nie die Gelegenheit hatte das Gehen zu üben.
Trotz meiner einsamen Kindheit hatte ich großes Glück, weil ich nicht von zu Hause weg geschickt wurde. Die anderen drei Mädchen, die nach mir geboren wurden, konnten nicht wie ich bei eigenen Eltern bleiben.
Meine zweite Schwester Min (bedeutet: scharfe Augen haben, flink, behände) musste zwar nicht unsere Familie verlassen, aber sie wurde entweder bei meiner anderen Oma oder meiner Tante, der jüngeren Schwester meiner Mutter, gelassen. Ich konnte mich an meine zweite Schwester überhaupt nicht erinnern, da wir überhaupt nie Zeit in der Kindheit miteinander verbracht haben. Als ich viel älter war, kam sie ab und zu nach Hause. Am Anfang habe ich nicht gewusst, dass sie meine jüngere Schwester war. Die Nachbarn haben ihr einen Spitznamen gegeben: Jiuni. Das bedeutet so viel wie neuntes Mädchen. Die Aussprache von „9“ ist die gleiche wie die von „Ewigkeit“. Eine andere und tiefere Bedeutung von „9“ war, dass es nur Mädchen gab. Ich verstehe bis jetzt immer noch nicht, weshalb sie Min diesen Name gegeben haben. Unsere Familie war nicht gewöhnt sie so zu nennen. Aber ich vermute es war der Ausdruck des Wunsches, dass das nächste Kind kein Mädchen mehr sein sollte. Im alten China wurden auf dem Land viele Kinder mit solchen Spitznamen wie z.B. „Gou“ (Hund), „Niu“ (Kuh), „Tiedan“ (Eisenball) usw. bezeichnet. Damit wollte man die Kinder aber nicht herabmindern sondern im Gegenteil ihnen eine starke Seele einprägen. Früher waren die Lebensbedingen häufig ungünstig und zahlreiche Kinder sind früh durch Krankheit oder sogar Verhungern gestorben.
Wenn meine jüngere Schwester Min nach Hause kam, sah ich sie als einen Feind an. Das heißte, ich musste mit mehreren Kindern (ältere Schwester Lili und Min) die Sachen teilen: so wurde ein Apfel in drei Stücke geteilt. Deshalb habe ich sie öfter rücksichtlos behandelt. Ich freute mich herzlich, als sie später in ein Internat einer Gong Fu, sprich Kampfkunstschule, geschickt wurde.
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