Während des langen Schulweges wurden meine Finger steif vor Kälte und ich versucht mit der linken Hand die Rechte zu wärmen, damit ich schreiben konnte. Aber meine Schriftzeichen krochen trotzdem dahin wie Regenwürmer. In meiner Klasse waren nur wenige Schüler, da die anderen, aus mir unbekannten Gründen, nicht in den Unterricht kamen. Der Klassenraum schien von vorne bis hinten leer, groß und kalt. Wie ein wilder grimmiger Stier brüllte der eisige Wind und pfauchte durch kaputte Fensterscheiben in den Klassenraum hinein. Ich wünschte nach Hause zu gehen um mich sofort in meine dicke Winterdecke einzuhüllen zu können.
Da bekamen wir unverhofft eine Benachrichtigung von einem anderen Lehrer: unser Mathematiklehrer war krank und wir konnten jetzt nach Hause gehen. Wie eine Rakete lief ich mit zitterigem Körper nach Hause. Die Haustür war ungewöhnlicher Weise halboffen, innen war es hell und warm. Ich ging wachsam hinein und sah unseren Dorfhauptmann drinnen. Er war sonst nie bei uns zu Hause - weshalb kam er plötzlich zu uns? Ein schlechtes Gefühl überfiel mich. Er beendete schnell das Gespräch mit meiner Mutter und sagte zu mir: „Ah, bist du schon da“, dann drehte er sich wieder flüsternd zu meiner Mutter:“ Es würde wahrscheinlich nächstes Jahr nach der Maiserntezeit durchgeführt. Ihr solltet etwas vorbereiten. Bitte erzählt niemandem, dass ich heute hier war“.
Er schritt schnell wieder aus dem Haus.
Ich wusste nicht, was der Dorfhauptmann meiner Mutter vorher erzählt hatte. Sie starrte mit ernstem Gesicht längere Zeit auf unseren kleinen Kohlenbrenner in der Mitte des Wohnzimmers. Erste einige Minuten später merkte sie, dass ich früher als üblich nach Hause gekommen war.
Ich saß ruhig auf dem Stuhl, der neben meinem Elternbett stand, um meinen kleinen Bruder zu beobachten. Er schlief viel, Falten hatte er nicht mehr im Gesicht, aber er geiferte wie üblich. Sein großer Kopf machte ihn wirklich sehr süß.
Mein Vater kam wieder mit seinem Fahrrad von der Stadt zurück und brachte ein Säckchen Bananen mit. Darauf habe ich ewig lang gewartet. Auf dem Land gab es nur Lebensmittel zu kaufen, die auf den Feldern der Gegend angebaut wurden. Andere Konsumgüter konnte man nur in der Stadt kaufen, die man aber nur ein oder zwei Mal im Jahr besuchte.
Seit ich einen Bruder hatte, musste ich mit ihm alle meine Sachen teilen. Er war ja etwas Besonderes - er war die Lebensenergie meiner Eltern. Meine Mutter sagte öfter zu uns, dass alles was sie bisher verdient hatte meinem Bruder gehöre. Sie arbeite nur für meinen Bruder so hart. Sie lebe nur für ihn. Der Bub war wie ein starker Magnet, der alle Sachen zu sich hinzog - das Lächeln meines Vaters, die Liebe meiner Eltern und jetzt sogar mein Lieblingsobst, Bananen. Das bodenlose Gefühl der Ungerechtigkeit machte sich in meinem Herz breit. Das Alles nur, weil ich ein Mädchen war? Ich hoffte, dass ich schnell erwachsen werden würde, um nicht mehr zu Hause bleiben zu müssen.
Anfang des kommenden Jahres im März widmeten sich meine Eltern einem großen Projekt. Sie gruben im Kinderzimmer eine geräumige Grube, so groß wie das Elternbett. Der Boden wurde mit roten Ziegeln zugepflastert und mit einem großen Stück dicker Plastikfolie gegen aufsteigende Feuchtigkeit, abgedeckt. Als Abdeckung der Grube gab es Holzbretter, die wiederum mit roten Ziegeln überpflastert wurde. Damit sah dieser Teil wie der andere Boden aus. Zum Schluss stellten meine Eltern unsere zwei Kinderbetten wieder zurück.
Ich hatte meine Mutter gefragt, wozu sie ein Loch im Hausgruben. Meine Mutter schimpfte mit mir und sagte, dass Kinder nicht so viele Fragen stellen sollten.
Wir Kinder durften den anderen Leuten nichts von dem bizarren Bau erzählen. Es gab also ein großes Geheimnis. Erst nach der Maiserntezeit dieses Jahres bekam das Mysterium für mich einen Sinn.
Meine Eltern hatten nur 0,2 Hektar Land für sieben Personen. Das war viel weniger als im Vergleich mit anderen Bauern. Wenn es eine gute Ernte gab, reichte das Getreide knapp bis zur nächsten Erntezeit. Trotzdem mussten wir jedes Jahr einen bestimmten Teil, als Gebühren für die Nutzung des Feldes an den Staat abgeben. Wenn es kein überschüssiges Getreide gab, war es notwendig den Gegenwert in Geld zu bezahlen.
Mein Vater war deshalb öfter gezwungen zusätzliches Geld als Maler und Lackierer in der Stadt oder in umliegenden Dörfern zu verdienen. Meine Mutter arbeitete in der Freizeit als Schneiderin. Sie hatte zwar nie eine Ausbildung als Schneiderin gemacht, aber wenn sie ein neues modisches Kleid sah, konnte sie das ganz genau nachmachen. Wegen dieses Talents trugen wir nur die Sachen aus den Händen meiner Mutter. Wie in anderen Bauernfamilien üblich, übernahm das jüngere Kind die alten Sachen von den älteren Geschwistern. Aber durch die Schneiderkunst meiner Mutter wurde das alte Zeug in neue Kleidungstücke verzaubert.
Sie war immer großzügig zu den Nachbarn und half auch sehr gerne anderen Leuten. Zum Beispiel schneiderte sie freiwillig neue Gewänder für die Verwandten, Nachbarn und Bekannten. Es lagen auf unserem großen Wohnzimmertisch ständig neue Stapel Stoff, aus denen für andere Leute Gewänder geschneidert wurden. Diese Leute lobten meine Mutter bis heute. Sie erhielt deswegen auch den Beinamen „neng“, was so viel bedeutet wie „talentvoller Mensch“.
Ende Mai nach der Weizenerntezeit bevor Mais gepflanzt wurde, sammelten wir auf den Feldern in der Früh den restlichen Weizen, der dort bei der Erntearbeit zu Boden gefallen war. Einige Tage später wurden die Felder mit einfachen Pflügen, gezogen von Kühen, umgebrochen und für das Anpflanzen des Maises vorbereitet. Ich hatte einen mit Weizenähren halbvollen Bambuskorb, der von verschiedenen Feldern aus dem ganzen Dorf stammte, in den Armen. An der Größe der Körner konnte man sehen, wer dieses Jahr eine gute Ernte hatte. Ein ganzer Korb Weizen hatte ungefähr den Gegenwert von ca. zwei Kilogramm Wassermelonen oder 0,5 Kilogramm frisch gebackenem speziellem Brot.
Am Nachmittag war ich wieder mit meiner Freundin und meinem Korb auf dem Feld um mit einer Sichel Gras für ihre Ziegen und Kühe zu schneiden. Meine Familie hatten damals keine Kühe mehr, sondern nur einige Hühner und Enten.
Wir suchten ein ungepflegtes Feld mit hohem Gras, denn hier konnten wir für die Tiere Gras sammeln, das nicht mit Insektenvertilgungsmittel gespritzt wurde. Da einige Gemüsegärten nicht so weit entfernt lagen, starrte ich längere Zeit auf diese Grünoasen und wünschte mir auch so ein kleines Paradies. Die Bauern arbeiteten noch auf den Feldern, sodass wir hier ganz allein waren. Ich flüsterte zu meiner Freundin ob wir uns nicht heimlich in einen dieser Gärten schleichen und etwas Gemüse stehlen sollten.
Sie nickte mit dem Kopf, näherte sich, nahm ihre Hand um ihren Mund zu verdecken und flüsterte mir ins Ohr: „Wir könnten die grünen Chili und die jungen Auberginen pflücken, die sehen so gut aus“. Wir duckten uns und mit achtsamem Blick auf Umgebung nahmen wir unsere Körbe in den Garten mit hinein.
Wir lagen auf dem Bauch zwischen den Reihen mit Auberginenpflanzen, damit uns niemand sehen konnte. Die jungen dunkel violetten Auberginen waren so groß wie eine Faust, und hangen überall auf den niedrigen Büschen. Wir waren die ganze Zeit hellhörig. Ich flüsterte zu meiner Freundin, dass wir die Früchte probieren sollten, ob sie auch gut schmeckten. Wir pflückten jede eine Aubergine und bissen mit Begierde in die Frucht. Sie schmeckten großartig.
Als meine Familie später vom Dorf in der Stadt umzog, hatte ich nie mehr eine so köstliche Aubergine gegessen.
Ein paar grüne Chili hatte ich auch gepflückt und unter dem Gras meines Korbs versteckt. Als ich zu Hause war, erzählte ich meiner Mutter nicht, dass ich den Gemüsegarten eines Bauers geplündert hatte, sondern dass mir ein Bauer das Gemüse als Geschenk gegeben hat. Ich habe die Chili in kleine Stücke geschnitten und in Sojasoße eingelegt. Sie waren feurig scharf. Mit hochrotem Kopf aß ich doppelt so viel Brot wie normal. Es war eine äußerst einprägsame und genüssliche Mahlzeit, obwohl es nur Brot und Chili gab.
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