Später erfuhren wir, dass der Man schon 28 Jahre alt war und eine angeborene geistige Behinderung hatte. Seine Mutter, die alte Frau mit der Schüssel voller Nudeln, brachte ihm jeden Tag dreimal Essen. Sonst besuchte ihn niemand. Er lebte schon seit 20 Jahre alleine in dem kleinen Haus.
Immer nach der Schule versteckte ich mich hinter einem Baum, um diesen behinderten Mann zu beobachten. An einem Tag, während ich hochkonzentriert diesen Mann beobachtete, lief plötzlich ein Nachbarsmädchen, von der Schule kommend, zu mir und sagte mit kurzatmiger Stimme:
„Yanzi, (Rufname meiner Eltern, bedeutet Schwalbe) ich habe dich in der Schule gesucht, warum bleibst du immer noch hier. Einige Männer sind bei euch zu Hause, du sollst schleunigst nach Hause gehen“.
Wie eine Bombe explodierte diese Nachricht in meinem Kopf und ich lief so schnell wie möglich nach Hause ohne zu dem behinderten Mann zurück zu blicken. Eine schlechte Vorahnung machte sich in meinem Herzen breit. Das Nachbarsmädchen nahm meine zurückgelassene Schultasche mit und folgte mir.
Bevor ich noch unser Haus sah, fiel mir schon ein Traktor mit einem großen Holzwagen auf, der viel grösser war als unserer. Auf dem Wagen waren bereits ein paar Sachen von uns zusammengepackt. Daneben standen lauter bekannte Gesichter aus meinem Dorf und auch viele unbekannte Gesichter aus anderen Dörfern, Schaulustige. Ich drängte mich durch die Menschenansammlung und ging in den Hof. Im Hof gab es viele Männer, die ich nicht kannte. Doch der Brigadeleiter war auch da. Eine Brigade war die kleineste Grundeinheit in China auf dem Land von 1958 bis 1984 und umfasste durchschnittlich ca. 20 Bauernfamilien, also 100 Leute. Der Anführer einer solchen Brigade war der Brigadeleiter und dieses Mal wies er die Männer an, was sie alles mitnehmen sollten. Mein Vater lächelte höflich und bescheiden, in seiner linken Hand hielt er eine Packung gute Zigaretten und verschenkte sie an die Männer. Das Getreide aus dem Ost-Haus wurde alles auf den Holzwagen geladen. Unser Schwarz-Weiß-Fernseher war auch nicht mehr da. Der Schrank und die Brautausstattung von meiner Mutter waren verschwunden. Im Haus herrschte überall Chaos und die Männer suchten wertvolle Sachen in jeder Ecke. Meine ältere Schwester stand mit Tränen im Gesicht vor einem Tisch, um die zwei Männer am Mitnehmen des Möbelstücks zu hindern. Mein Vater schimpfte mit ihr und brachte sie aus dem Haus.
Ich war so wütend, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wie eine Trommel pochte das Geräusch meines wild schlagenden Herz in meinem Kopf. Schreien und Weinen halfen nicht. Ich wollte von dem Aufruhr nichts mehr sehen. Mit meiner Schultasche war ich wieder draußen auf der Straße. Das Nachbarsmädchen „Xiu Shi“ kam wieder zu mir und flüsterte, dass ein Mann gerade ein Buch von uns unter dem Sattel des Traktors versteckte. Ich war wutentbrannt, es durfte nicht sein, dass er das Buch stahl. Ich ging schnell zu dem Sattel, holte das Buch heraus und packte es in meine Tasche. Das Buch gehörte meinem Vater. Niemand durfte ihm das wegnehmen.
Von einer Nachbarin erfuhr ich, dass meine Eltern, insbesondere wegen der Geburt meines Bruders, bestraft wurden, weil sie gegen die Ein-Kind-Politik in China verstoßen haben. Umgerechnet ca. 1.000 Euro forderte die Gemeinde von meinen Eltern. Meine Mutter sagte, dass es unmöglich sei diese ungeheure Geldbuße abzuleisten. Mit unserem Haus könne die Gemeinde machen was sie wollen, der Bub bleibe aber bei ihr.
Wir hatten Glück, da unser Haus nicht beschädigt wurde. Das Getreide im Grubenversteck war nun unser Sparbuch. Einen Fernseher, unser einziges wertvolles elektronisches Gerät, hatten meine Eltern bereits vorher bei einem Nachbar versteckt. Ich bewunderte die weise Voraussicht meiner Eltern.
Schon zwei Monate vor diesem Raubzug gab es ein ähnliches Geschehen bei anderen Nachbarn. Wie bei uns gab es vier Kinder in dieser Familie. Sie haben gegen die Ein-Kind-Politik verstoßen. Der Bauer arbeitete in der Freizeit als Handarbeiter, er machte Böllerketten. Man verdiente damit nicht schlecht, aber er musste für ein zweites und ein drittes Mädchen viel Geld an die Gemeinde bezahlen. Als er endlich einen Jungen bekam, hatte er weder genug Getreide noch Geld um seine Zahlungen zu leisten. Die Geldeintreiber von der Gemeinde würden nie mit leerenden Händen wieder abziehen. Die einzige wertvolle Sache war das Haus. Sie kletterten auf das Dach und schleppte alle Dachziegel weg. Vom Haus blieben nur vier unvollständige Wände und der Dachstuhl übrig. Erst ein Jahr später hatten sie das Geld, um das Haus zu renovieren. Vorher hatten sie ein Zelt neben dem Haus errichtet, in dem die ganze Familie wohnte.
Es gab noch viele andere Familien, die mehr als ein Kind hatten. Sie flüchteten teilweise in die Stadt oder zu Verwandten bis die Strafzeit vorbei war. So fanden die Gemeinden den Betreffenden nicht, und mit den leeren Häusern konnten die Gesetzesvertreter auch nichts machen.
Als wir uns später in der Stadt niederließen hatten wir einige Nachbarsfrauen während ihrer Strafzeit empfangen.
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