„Ja, versteht ihr denn nicht?“, ruft Primo. „Das ist ein Notfall! Das Dorf wird womöglich angegriffen!“
Doch die anderen beachten ihn gar nicht, sondern streiten sich nur darum, wer als nächstes die Glocke schlagen darf. Hilflos sieht sich Primo um. Asimov, der Golem, steht ein Stück Abseits. Der wird ihm sicher helfen. Primo rennt zu ihm.
„Alarm!“, ruft er. „Asimov, das Dorf wird angegriffen!“
„Könnt ihr mich nicht einfach aus euren seltsamen Spielen heraushalten?“, fragt der Golem. „Ich verstehe die sowieso nicht, und ich finde sie auch kein bisschen lustig.“
„Aber du musst mir helfen!“
„Ich muss gar nichts. Ich bin jetzt ein freier Golem, schon vergessen?“
Primo seufzt und rennt weiter zur Bibliothek. Sein bester Freund Kolle und dessen Frau Margi sind mal wieder dabei, unter der Anleitung von Kolles Vater Bücher von einer Seite des Raums auf die andere zu tragen.
„Kolle, komm schnell!“, ruft Primo atemlos. „Ich ... ich glaube, das Dorf wird angegriffen!“
Kolle lässt vor Schreck einen Stapel Bücher fallen.
„Was? Von wem?“
„Ich weiß nicht genau. Da sind so seltsame Typen, die über die Ebene im Osten auf uns zu marschieren!“
„Ach was, das ist bestimmt bloß Wumpus mit seinen Leuten“, meint Margi. „Der war schon länger nicht mehr hier. Vielleicht hat er irgendwie mitbekommen, dass wir jetzt eine Glocke im Dorf haben, und ist neidisch.“
„Nein, das sind keine gewöhnlichen Dorfbewohner“, beharrt Primo. „Kommt und seht selbst!“
Die beiden folgen Primo zum Rand des Dorfs. Paul steht immer noch da und bellt. Die Unbekannten haben inzwischen das andere Flussufer erreicht. Aus der Nähe sehen sie noch finsterer aus, und das große Tier noch eindrucksvoller. Primo ist schon mit schlimmeren Monstern fertig geworden, doch etwas liegt in den Augen dieser Fremden, eine Kälte und Härte, die ihm einen Schauer über den Rücken laufen lässt.
„Wer hat hier das sagen?“, ruft die Gestalt auf dem Rücken des großen Reittiers. Ein Banner weht über ihrem Kopf und sie hat ein seltsames Gebilde in der Hand, das ein wenig wie einer der Bögen aussieht, mit denen die Knochenmänner ihre Pfeile verschießen, nur dass es waagerecht gehalten wird und noch ein Stock daran befestigt ist.
„Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“, fragt Primo zurück.
„Hol den Häuptling eures Dorfs her, oder es wird dir schlecht ergehen!“, erwidert der Unbekannte.
Aus den Augenwinkeln sieht Primo, wie Kolle grün anläuft.
„Wir haben keinen Häuptling“, antwortet er. „Wir entscheiden alles gemeinsam.“
„Wie unpraktisch. Na egal. Dann sag allen Dorfbewohnern, sie sollen sämtliche Wertgegenstände herbringen: Gold, Smaragde, Schmuck, Werkzeuge und so weiter. Und bringt uns etwas zu essen, wir haben nämlich Hunger.“
„Und warum sollten wir das tun?“, fragt Primo.
„Weil wir euch dann am Leben lassen und euer Dorf nicht dem Erdboden gleichmachen“, sagt der Reiter, der anscheinend der Anführer der Unbekannten ist. „Und versucht nicht, uns zu betrügen. Wir werden jedes eurer Häuser durchsuchen, und wehe, wir finden dann noch irgendetwas Wertvolles, das ihr versteckt habt!“
„Verschwindet, ihr ungehobelten Kerle!“, ruft Kolle. „Oder ich bringe euch ...“
Bevor er weitersprechen kann, wird er zurückgeschleudert und fällt rücklings auf den Boden. Entsetzt sieht Primo, dass in der Brust seines Freundes ein kleiner Pfeil steckt. Offenbar hat ihn der Reiter mit seinem seltsamen Stockbogen abgeschossen.
„Kolle, nein!“, ruft Margi und stürzt zu ihrem Mann.
Der fasst sich an die Brust. Seine Gesichtsfarbe ist von zornigem Dunkelgrün zu einem blassen Grüngrau geworden.
„Aua ... das tut weh ...“, stöhnt er.
Primo starrt den Reiter an, der in aller Seelenruhe einen neuen Pfeil in seinen Stockbogen einlegt. Alles in ihm drängt ihn, sich auf den Anführer dieser Typen zu stürzen und ihm eine Lektion zu erteilen. Doch er hat weder Schwert noch Rüstung dabei und ahnt, dass diese Unbekannten härtere Gegner sind als die üblichen Nachtwandler und Knochenmänner. Mit einem von ihnen würde er vielleicht fertig werden, aber fünf auf einmal sind eine zu große Übermacht. Außerdem muss er Kolle in Sicherheit bringen.
„Siehst du jetzt, dass wir es ernst meinen?“, ruft der Anführer und hebt erneut seine Waffe.
Primo knirscht mit den Zähnen. „Schon gut, wir tun, was ihr sagt“, erwidert er. „Gebt mir einen Moment Zeit.“
„Na also, ich wusste doch, dass ihr vernünftig sein würdet“, erwidert der Anführer.
„Ha, diese Dorfbewohner sind doch alle gleich“, sagt einer der anderen. „Erst schwingen sie große Reden, aber wenn es ernst wird, machen sie sich in die Hose und geben klein bei.“
Die übrigen stoßen ein spöttisches Lachen aus.
2. Überraschungseffekt
Primo und Margi schleppen den verletzten Kolle in die Bibliothek. Unterwegs überlegt Primo fieberhaft, was er tun kann, um diese Gefahr vom Dorf abzuwenden. Die finsteren Gesellen rechnen offensichtlich nicht mit Gegenwehr. Mit etwas Glück kann er sie vielleicht überrumpeln. Doch der stärkste Kämpfer des Dorfs ist bereits von einem einzigen Schuss mit dem Stockbogen kampfunfähig gemacht worden. Das ist eine wahrhaft fürchterliche Waffe!
„Margi, lauf schnell zu Ruuna und Willert!“, sagt er. „Ich werde inzwischen meinen Vater und Asimov mobilisieren.“
„Und ich?“, fragt Kolle. „Was mache ich?“
„Du bleibst erstmal liegen und ruhst dich aus, Schatz“, sagt Margi.
Kolle rappelt sich auf. „Ich denke ja gar nicht daran!“, sagt er mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Es ... es tut schon fast gar nicht mehr weh!“
„Na gut, dann komm mit mir“, sagt Primo. „Aber halt dich erstmal zurück. Ich will diese Typen überraschen. Sie dürfen nicht wissen, dass du Nachtwandlerkräfte hast, bevor es zum Kampf kommt.“
Die beiden kehren zum Platz vor der Kirche zurück, wo die ahnungslosen Dorfbewohner immer noch versammelt sind.
Olum ist offenbar gerade dabei, einen weiteren Vers seines Glockenlieds vorzutragen: „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, Ding, Dong, Ding, Ding Dong, da kann sich kein Gebild gestalten, Ding, Dong, Ding, Ding, Dong ...“
Primo beschließt, die anderen nicht zu stören, sie wären im Kampf ohnehin nutzlos. Er fasst seinen Vater am Arm und flüstert ihm zu, was geschehen ist. Der nickt und folgt ihm. Zu dritt gehen sie zu Asimov.
„Bitte, Asimov, wir brauchen deine Hilfe“, sagt Primo.
„Geht das schon wieder los? Eure Glockenspiele interessieren mich nun mal nicht!“
„Das ist kein Spiel. Das Dorf ist in Gefahr! Du willst doch nicht, dass Mina etwas passiert, oder?“ Primo zeigt auf die Katze, die wie immer zusammengerollt auf dem Kopf des Golems liegt. Dann erklärt er Asimov seinen Plan.
„Na gut, wenn es unbedingt sein muss“, seufzt der Golem.
„Also, los jetzt!“, sagt Primo. Er geht mit Kolle und Porgo zur Schmiede.
„He, wo bleiben unsere Schätze?“, ruft einer der Räuber vom anderen Flussufer herüber.
„Und das Essen?“, fragt ein zweiter.
„Gleich!“, erwidert Primo. „Ich muss nur noch schnell unsere Smaragde zusammenraffen.“
Damit verschwindet er zusammen mit den anderen in der Schmiede.
„Du willst denen doch nicht wirklich Smaragde geben, Primo?“, fragt Golina.
„Natürlich nicht. Wir tun nur so, als ob. Hilf mir mal.“
Er räumt Bettwäsche und Kleidung aus einer Truhe im Schlafzimmer.
„Was soll denn das werden?“, fragt Golina.
„Wir verstecken unsere Waffen in dieser Kiste und tun so, als wäre sie voller Wertsachen“, erklärt Primo seinen Plan. „Damit kommen wir ganz dicht an sie heran, so dass sie ihre Stockbögen nicht einsetzen können. Ich öffne die Truhe, wir schnappen uns die Waffen, und ehe sie wissen, wie ihnen geschieht, bekommen sie eine Abreibung!“
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