Klatt sitzt schweigend und betrunken vor dem Fernseher. Ein Privatsender ist eingestellt, der Lieblingssender der Schrock, der nicht verstellt werden darf. Klatt, der nie gern fernsah, hat sich daran gewöhnt, das allabendlich die Kiste flimmert. Er hat sich daran gewöhnt, wie an so vieles in den neun Jahren seiner Ehe. Nur an den ätzenden Qualm ihrer beinahe achtzig Zigaretten, die sie Tag für Tag konsumiert, kann sich Klatt nicht gewöhnen. Der Geruch nach kaltem Rauch ist überall: in den Tapeten, den Teppichen, in den Seiten der Bücher im Regal, nachts im Kopfkissen, ja selbst in Klatts Jackett, wenn er morgens vor seinem Seminar steht. Für ihn ist es der Geruch nach Egoismus und Rücksichtslosigkeit!
Klatt sitzt schweigend und betrunken vor dem Fernseher. Irgendeine der ewigen amerikanischen Serien flimmert. Reiche, schöne, gesunde amerikanische Bürgerfamilie mit schmuckem Häuschen im mittleren Westen wird gekidnappt. Schwarzer, einsamer, erfolgreicher Detective, der nur gelegentlich zur Flasche greift, ermittelt. Großkalibrige automatische Pistolen bellen, Patronenhülsen fliegen durch die Nachmittagssonne vor einem Supermarkt, wie Karnevalskonfetti. Polizeisirenen jaulen, Telefone klingeln. Verdeckte Ermittler mit Pumpaction-Guns fuchtelnd, wie die Ritter der Tafelrunde mit ihren Zweihändern, machen schnell ein Ende! Wer war’s? Der intelligente, aber drogenabhängige Sohn des Kindermädchens mit seiner Gang aus gestrauchelten Brutalos. Verhaftung, Verurteilung, Elektrokution! Schönes Märchen vom Sieg des gerechten Tüchtigen!
Klatt ist es gleich, was da im Fernseher läuft. Darin hat er langjährige Übung. Sein Blick ist starr auf das Muster des Teppichs gerichtet. Fast schläft er ein. Aber er darf noch nicht einschlafen. Sein Kind ist jetzt im Bad. Er muss es noch in sein Bett bringen, Zudecken, Gutenachtküsschen. Es beruhigen, weil immer drängender nach der Mama fragt.
Sein Kind ist gewaschen und im Schlafanzug. Klatt bringt es ins Bett. Sein Gang ist schwankend. Er merkt es nicht mehr. Er verspricht seinem Kind, die Mama ins Zimmer zu schicken, wenn sie kommt.
Klatt schließt leise die Tür zum Kinderzimmer. Eine scheinbar heile Märchenwelt bleibt dahinter zurück. Klatt weiß nicht, wo die Schrock ist. Und die lange Übung, Stumpfheit in ihm und das Bier in ihm verhindern jetzt, in diesem Moment, dass er sich Sorgen macht oder sich das Hirn mit Eifersucht zermartert. Er weiß nicht, wo die Schrock ist, er weiß nicht, wann sie kommt, nein, er weiß nicht einmal, ob sie überhaupt kommt! Abwesenheit der Schrock bedeutet Abwesenheit von Kälte und Demütigung! Er weiß sein Kind im Nebenzimmer, er weiß noch zwei Flaschen Pils im Kühlschrank, das macht ihn ruhiger. Weiter denkt er jetzt noch nicht! Es ist nicht gut, zu weit zu denken! zu viele Unwägbarkeiten tauchen dann auf! Zu groß sind Unsicherheit und Angst! Und jetzt, betrunken, ist er stark, da braucht er keinen Menschen! Wenigstens nicht, solange der Rausch anhält! Solange seine Kraftquelle in ihm ist: das Bier!
Es ist jetzt stockdunkel vor den Fenstern. Klatt weiß nicht, wo die Schrock ist. Falls sie kommt, wird er sie nichts fragen, wie immer. Die Fragerei würde sie reizen. Sie würde ihm nicht antworten, weil sie eine Schrock ist und niemandem Rechenschaft schuldet. Ihm, Klatt, schon gar nicht! Das Bier, das gute Bier in ihm, das ihm morgen Sodbrennen und Kopfschmerzen bereiten wird und womöglich zitternde Hände, das Bier also, verhindert, dass diese Bilder in Klatts Kopf kommen. Bilder der Schrock, im Bett eines Kollegen! Bilder, die nicht allein seiner Phantasie oder einer krankhaften Eifersucht entstammen! Aber darüber darf er nicht sprechen! Danach darf Klatt nicht fragen! Also wird er nicht fragen, wie immer! Er wird ja sehen, ob sie kommt, wann sie kommt. Er hofft, dass sie kommt und wünscht zugleich, sie möge fortbleiben! Er hofft, irgendetwas, ein Wunder vielleicht, möge geschehen und dem allen ein Ende setzen. Klatt kann ohne einen Menschen an seiner Seite nicht leben, dazu ist er zu schwach. Aber mit diesem Menschen an seiner Seite wird er zugrunde gehen! Also braucht er das Bier, um zu ertragen und zu schweigen, um auszuharren im Schützengraben. In die Brustwehr gekrallt und nur den einen Gedanken: Überleben! Halten! Aushalten!
Klatt gießt die letzten Tropfen Bier sorgsam in sein Glas. Dann stellt er die leere Flasche in die Küche, zurück in den Kasten unter der Spüle. Leise flackert die Gasflamme im Boiler, der als großer weißer Kasten an der Küchenwand hängt. Der Boiler und das große verchromte Rohr, welches von ihm zum Schornstein führt, sind wie eine große Telefonanlage, durch die man ungewollt Zeuge der Gespräche in den anderen Wohnungen werden kann. Klatt hat sich deshalb bemüht, nicht mit den Bierflaschen zu klimpern. Es braucht hier niemand zu wissen, dass er abends Bier trinkt. Zuviel Arbeitslosigkeit, zu viel Neid und Häme wohnen in den Blocks um die Hochschule. In der Wohnung unter Klatts bellt ein Hund, dann streiten die Hilschers, wie so oft:
„...such Dich endlich Arbeet! Miete, Auto, Fressen: woher soll ich’s noch nehm’?“
„Habe sechzich Bewerbungen jeschrie’m! Was soll noch wer’n mit dreiunfuffzich Lenze? Se` ha’m nischt for mich uf' s Arbeetsamt! Oder soll ich Straße fegen oder Wochenspiegel austrag’n for achthundert netto?! Kriege ja mehr Hilfe!“
„Nischt mehr im Kopp als Schnaps und Videos! Kann ja nischt werden!“
„Bin über achtzehn! Mache, wat ich will...!“
„Aber nich' in meine Wohnung!“
„Meine Wohnung, meine Wohnung!“
„Jawoll, meine Wohnung! Zahle Miete, also ist Wohnung meine!“
Klatt kennt diese Gespräche. Es waren vielen Wohnungen hier die gleichen! Er will nichts mehr hören. Er geht zurück in das Wohnzimmer. Er setzt sich vor den Fernseher und schließt die Augen. Müde und ausgebrannt, fix und fertig wie er ist, hätte er auf der Stelle einschlafen können.
Aber das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das harte Rasseln des Schlüsselbartes im Sicherheitsschloss der Wohnungstür, lässt ihn hochfahren. Die Schrock! Ein kalter Luftzug weht vom Treppenflur herein und mit ihm die Küchengerüche, die zum Treppenflur in diesem Haus gehören mussten, wie die heruntergerissene Tapete, die Fußabtreter und die Schuhe vor den Türen und die Warnungen vor Rattengift im Erdgeschoß. Die Wohnungstür knallt hart ins Schloss. Klatt hört Kleidung rascheln. Die Schrock zog sich im Flur aus. Dann hört Klatt das Geräusch ihrer vielen schweren Ringe, die sie abstreifte und achtlos auf den Telefontisch plumpsen ließ. Fiel einer dahinter und war am Morgen nicht auffindbar, wurde sie aggressiv, schob ihm die Schuld zu! Er kannte das alles! Er sitzt jetzt ganz still und wie gelähmt. Er fühlt sich ertappt, und er verspürt das heftige Verlangen, aus dem Sessel aufzuspringen und irgendeine Hausarbeit anzufangen, wie als Schutzschild gegen irgendeinen möglichen Vorwurf. Aber er war zu müde und zu betrunken. Deshalb bleibt er teilnahmslos sitzen. Er hatte genug Bier in sich, um gewappnet zu sein, gegen jede Art von Gleichgültigkeit, von Kälte oder Aggression, die ihm nun widerfahren mochte. Er fand noch die Zeit, darüber nachzudenken, ob die Schrock mit ihm sprechen würde oder nicht. Hatte sie einen schlechten Tag, dann konnte es geschehen, dass sie tage- oder wochenlang schwieg. Sie antwortete dann nicht, wenn er sie etwas fragte, und die kleinste Störung seinerseits machte sie bösartig. Hatte sie einen guten Tag gehabt, dann begrüßte sie ihn förmlich und kalt. Dann konnte es geschehen, dass er ihr stundenlang zuhören musste. Er musste dann zuhören und schweigen, wenn sie ihm in einem vorwurfsvollen Ton von ihrem Arbeitstag im Jugendwerkhof erzählte, so, als hätte er nicht auch einen anstrengenden Arbeitstag und eine Menge Hausarbeit hinter sich, sondern hätte den ganzen Tag lang nur geschlafen. Klatt wartet also mit verkrampften Fingern in seinem Sessel. Aber heute schien ihr Tag mittelmäßig gelaufen zu sein. Vielleicht war sie von ihren männlichen Kollegen nicht genügend beachtet worden, fand Klatt, denn sie steckt ihren kurzgeschorenen Kopf mit den großen Ohrringen kurz in das Wohnzimmer. Sie blickt Klatt aus kleinen bösen Knopfaugen an wie ein Terrier seine Beute. Wobei der Eindruck der Bosheit noch durch ihre braunen Augen verstärkt wird. Sie blickt ihn an, als sei er eine Art Ungeziefer und bellt grundlos und laut in seine Richtung: „Guten Abend der Herr! Begrüßung haben wir wohl nicht mehr nötig, wie?!“ Klatt schweigt. Er sieht zur Erde, wie ein geprügelter Hund, und er schweigt. Er weiß, dass es jetzt besser war, zu schweigen. Jedes Wort hätte sie nur provoziert. Jedes Umarmen hätte in ein Wegstoßen gemündet und in den Schrei: „Fass mich nicht an!“ Das wusste Klatt alles längst aus Erfahrung. Also schwieg er besser. Und sie, die auch gar nichts anderes erwartet hatte, von diesem Trottel, der ihr eh nicht gewachsen war, wie sie wusste, kommentierte sein Schweigen mit einem verächtlichem Grunzen und dem Standardsatz: „Du ödest mich an bis zum Erbrechen!“ Dann war er für heute erledigt. Sie hat es ihm wieder einmal gegeben! Sie hat es ihm wieder einmal gezeigt! Aber das Ausbleiben jeglicher sichtbarer Reaktion nahm ihr die Freude am Spielchen. Sie lässt ihn links liegen, mochte er tun und lassen, was ihm beliebte. Und sie sieht noch kurz nach dem schlafenden Kind, ehe sie sich in die aufgeräumte Küche setzt, die Beine auf den kleinen Bistrotisch legt, sich eine Zigarette anzündet und eine Illustrierte liest. Mochte er, Klatt, der Trottel, das Spielzeug, tun, was ihm beliebte! Sie war nicht für sein Glück verantwortlich! Nur für ihres! Für ihres ganz allein, nicht für seines oder das Glück irgendeines anderen Menschen auf dieser Welt! Ihr Leben war ganz in Ordnung: sie wusste das Kind gut versorgt. Sie wusste die Wohnung aufgeräumt und die Miete bezahlt. Sie wusste ihre Wäsche ordentlich zusammengelegt im Schrank und ihr Bett aufgeschüttelt und gemacht. Sie brauchte nur noch ihre Beine hochzulegen und zu entspannen. Sie gießt sich ein Glas Wein ein, zündet sich eine Zigarette an und bläst den Qualm in die kleine Küche. Durch die offenen Türen verbreitet er sich im Schlafzimmer, im Bad, im Flur, im Wohnzimmer. Sie greift nach ihrer Illustrierten und liest zum zweiten Mal die Serie über die Ehe von Frank Schöbel. Ihr Leben war ganz in Ordnung, wie sie fand! Alles war an seinem Platz! Sie hatte die Dinge fest im Griff! Gedanken um andere waren gänzlich unnötig! So sollte es sein! Es war so einfach! Man musste nur rücksichtslos genug sein und bereit, weiter zu gehen, als andere es wagten. Der Vati hatte Recht, wie immer: Menschen waren so leicht zu beherrschen, zu manipulieren! Man musste ihnen nur den Eindruck vermitteln, dass man gar keine Menschen um sich brauchte! Dass man härter war, als jedes andere Individuum auf der Welt! Schon fraßen sie einem aus der Hand, und man konnte sie an irgendeinen Platz stellen, ihnen irgendeine Tätigkeit zuweisen, sie würden sie ausführen. Und war das nicht richtig? Kam es nicht darauf an, so einfach und bequem durch das Leben hindurch zu kommen, so etwa, wie ein scharfes Messer durch Butter? Es war eine Kunst, sich sein Leben derart einzurichten und zu organisieren. Das hatte sie aus den vielen Gesprächen mit dem Vati und der Mutti schon gelernt. Sie beherrschte diese Kunst auch! Sie war stark! Sie brauchte neben ihren Eltern keinen weiteren Menschen! Nein, das brauchte sie nicht! Er, der Trottel, hatte das einmal, vor Jahren, als er noch zu diskutieren wagte, mit ihr und dem Vati, „unsozial“ genannt! Es war egal, wie er diese Art von Leben nannte! Es blieb die einzige Art und Weise von Leben, die sie zu führen gedachte, die sie zu führen imstande war! Sie war eine Schrock, und sie würde wie eine Schrock leben! Und sie führte auch keine Debatten mehr mit dem Idioten! Mochte er sich doch selbst Leid tun!
Читать дальше