Hat man die leichte Anhöhe hinter sich gelassen, am nördlichen Rand der Saalestadt mit dem Schloss, dem Kurhaus und den Kirchen, die Anhöhe, die sie den Gutsberg nennen, eine der wenigen Erhebungen in der tischartig ebenen Landschaft, dann ist man der Stadt und ihren Staus entronnen.
Und die Fernverkehrsstraße führt nun beinahe schnurgerade hinauf nach dem Norden, bis nach Magdeburg, beinahe schnurgerade durch weite Felder, öffnet zögernd den Blick auf verloren wirkende Ortschaften darin, ohne Namen, die im Gedächtnis haften und immer weiter hinauf, durch die Börde, bis in die Altmark.
Aber schon hier oben, auf dem Gutsberg, jenseits der Stadt im Tal der Saale, über ihren Dächern, schien es nun, als hätte man, nahe einem schweren Himmel, nichts weiter vor sich, als die Straße, die ins Nirgendwo führen musste.
Weit und öd liegen die Felder, Felder bis zur Krümmung des Horizonts, kaum ein Baum, selten ein dürrer Strauch, kahl, in der flimmernden Hitze des Sommers, in den Stürmen des Herbstes, unter dem klaren Frosthimmel des Winters.
Nichts als Acker: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, uferlose Versuchsfelder! Unterbrochen nur vom matten Strang der Schienen der Bahnlinie von Könnern nach Calbe, selten belebt
noch, von der trägen und schmutzig-rötlichen Silhouette des einzigen klobigen Triebwagens, der aus Rentabilitätsgründen immer seltener fährt.
Die Öde der Felder: unterbrochen nur von den Resten des stelzigen Wachturms am westlichen Horizont, rostigen Antennenpeitschen daneben über aufgeschütteten Erdwällen und löchrigem Stacheldraht – zerfallende Hinterlassenschaft der abgezogenen Sowjetarmee, verwaister Ort, gefürchtet, seit vor Jahrzehnten ein eifriger Wachposten vom Turm eine späte Radfahrerin beschoss, immer schon gemieden, auch, weil es hieß, hier waren Atomraketen gelagert.
Die Öde der Felder, selten noch unterbrochen durch die Kirchturmspitzen einzelner Orte abseits der Straße, Nadeln im trüben Licht unter schwerem Himmel. Eine Straße in bleierner Landschaft. Es fließt der Strom des Verkehrs hektischer, eiliger, durch die Öde der Felder, durch das trübe Licht, zu einem Ziel hin, jenseits von hier!
Etwa auf halber Strecke zwischen der Stadt im Tal und dem dürren Kirchturm der Ortschaft Neugattersleben, noch jenseits des verlorenen, hässlichen Haltepunktes Sprenzfeld an der Bahnlinie nach Calbe, links der Straße: um den backsteinernen Schornstein des Heizwerkes - die öde Anhäufung uniformer Gebäude, deren älteste auf das hier ansässig gewesene Junkerswerk und die Fliegergarnison zurückgehen. Uniforme Gebäude zwischen Bäumen, mitten im Acker, der Stadtteil gleichen Namens wie der Haltepunkt. Und die Aussicht: Felder bis zum Horizont, gegen die aufgehende Sonne die Umrisse von grauen Industrielandschaften.
Die Zementwerke in der Nienburger Gegend.
Jens Klatt, fünfunddreißig Jahre alt und seit neun Jahren in dieser Gegend, steigt mit müdem Schritt die Treppen im Flur des Miethauses hinauf wie jeden Tag. Es ist ein Miethaus, wie unzählige andere, die in Städten zwischen Rostock und Suhl stehen. Mief von lange getragenen Schuhen und Küchengerüche erfüllen den Flur. Es ist Nachmittag, und Klatt steigt die Treppen hinauf ohne den Blick zu heben, bis ganz nach oben, wo seine Wohnung ist. Eine Wohnung wie viele hier: sechzig Quadratmeter, drei Zimmer, Balkon, Zentralheizung. Eine Wohnung, in der er ein Fremdkörper geblieben ist.
Klatt hat Feierabend. Er ist ein Privilegierter, denn er hat Arbeit, eine gut bezahlte noch dazu. Haustarif, in Anlehnung an den Bundesangestelltentarif Ost: das sind zweitausendsechshundert netto! Klatt hat diese Arbeit. Er hat sie durch Fürsprache seines Schwiegervaters, Karl-Dieter Schrock bekommen. Und Schrock, der Patriarch, wird nicht müde, ihm dies unter die Nase zu reiben, verbunden mit dem Hinweis, dass Arbeit heutzutage Gnade ist, bei offiziell vier Millionen Arbeitslosen bundesweit und einer Quote von sechsundzwanzig Prozent hier im Landkreis.
„Also, alter Freund“, hört er Schrock deklamieren, „nur wer ein Einkommen hat, hat ein Recht auf Familie! Ohne Einkommen springst Du besser gleich in die Saale!“
Klatt zieht die Schultern ein. Er ist vor seiner Wohnungstür angekommen. Die Tapete im Flur des Treppenhauses hängt in Fetzen herab. Das scheint niemanden zu stören. Warum sollte es ihn dann stören?
Klatt schließt die Wohnung auf und blickt auf die rote Leuchtdiode des Anrufbeantworters. Dort blinkt es zweimal. Klatt kennt die beiden Nachrichten. Kristina Schrock, seine Schwiegermutter, hat sie gesprochen. Sie vermisst ihre Handcreme. Wer soll sie schon weiter haben, als er, Klatt, vor dem nichts sicher ist, auch nicht die Handcreme!
Aus der Küche dringt der ätzende Geruch nach kaltem Rauch. Der überquellende Aschen-becher steht auf dem Küchentisch, daneben noch immer eine halb leere Kaffeetasse mit roter Lippenstiftspur am Rand!
„Faules Arschloch!“, murmelt Klatt, und er sieht sich ängstlich und hastig um, ob ihn vielleicht jemand gehört hat, aber niemand ist da. Dann schließt er die Wohnungstür. Er verspürt eine überwältigende Müdigkeit und zugleich diesen Durst auf Bier, wie jeden Tag. Aber noch ist es später Nachmittag. Und wenn er jetzt trinkt, wird er einschlafen, das weiß Klatt. Also trinkt er nicht, noch nicht. Das ist besser so, denn bald kommt der Bus aus der Stadt mit seiner Tochter, und er hat noch viel zu tun: Betten bauen, aufräumen, Wäsche abnehmen und zusammenlegen, nasse Wäsche aufhängen, Geschirrspüler einräumen, Mülleimer wegbringen, damit es nicht wieder Ärger gibt, wenn sie kommt!
Klatt fühlt sich müde und ausgebrannt wie ein Greis. Er weiß nicht, ob es das Frühjahr ist oder irgendetwas anderes, dass jede Kleinigkeit, die zu tun ist, ihm schwer wird.
Mit müden Bewegungen räumt Klatt den Geschirrspüler ein, den sie von den Schrocks bekommen haben, wie beinahe die gesamte Wohnungseinrichtung. Dinge, die verpflichten; Dinge, die oft hervorgeholt werden, um Klatt zu beschämen.
Klatt nagt mit den Schneidezähnen an seiner Unterlippe, zieht kleine Hautfetzen aus der Oberfläche, bis ein Blutgeschmack seinen Mund erfüllt. Klatt stapelt schmutziges Geschirr in den Korb des Geschirrspülers, zuletzt ihr Weinglas von gestern Abend und ihre Kaffeetasse vom Morgen mit der Lippenstiftspur am Rand.
Klatt wird unruhig. Der Durst auf Bier wird stärker. Aber er weiß, dass er jetzt noch nicht trinken darf. Es würde nicht bei einem Bier bleiben, das weiß Klatt. Er würde hastig ein zweites, vielleicht ein drittes Bier trinken. Er würde seine Arbeit nicht schaffen. Es könnte Ärger geben, wenn sie kam. Ärger, Brüllerei und wochenlanges Schweigen, das Klatt nur noch schwer erträgt. Klatt ist schwach. Und er braucht einen Menschen, einen Menschen, der ihm zuhört, zu dem er zurückkehren kann in Not und Leid. Sie aber, sie verweigert sich ihm, wenn er nicht funktioniert. Sie straft ihn mit Schweigen und Verachtung. Sie kann das, denn sie ist stark. Sie braucht niemanden, vielleicht die Schrocks, ihre Eltern. Ihn aber, den Menschen Klatt, braucht sie nicht! Mag sein, dass sie sein Einkommen braucht, die Zwosechs netto, ihn aber, den Menschen Klatt braucht sie nicht! Sie, Mirjam, seine Frau. Seine Frau, die ihm nie eine Frau war. Sie ist die einzige und folgsame Tochter Schrocks geblieben, nie aber seine Frau geworden. Eine Frau ist dem Mann eine Buhne im Chaos. Sie ist ein Ort der Zärtlichkeit und des Friedens. Ein Platz des Trostes, wie der Mutterschoß. Nie ist sie ihm das gewesen!
Fremd und feind ist sie ihm geblieben. Schwer kalkulierbar, ein Fremdkörper, eine offene und schwärende Wunde! Er nennt sie deshalb bei sich immer nur „die Schrock“. Er kann von ihr nicht anders denken. Sie ist „die Schrock“ und sie bleibt „die Schrock“. Zuviel ist zwischen ihnen gewesen. Viel zu viel. Und Klatt weiß, dass er bereits zu lange geblieben ist, dass er verloren hat. Aber auch das ist jetzt egal. Es spielt für Klatt keine Rolle mehr zu siegen oder zu verlieren. Er hat hier auszuhalten, bei dem Kind, das er liebt, bis zum Untergang seiner selbst, wenn es sein muss. Er hat auszuhalten, wie ein Infanterist im Schützengraben, in die Brustwehr gekrallt und mit dem Ziel, nur zu überleben, in den Boden gekrallt auszuharren oder zu sterben, aber noch nicht zu weichen. Klatt harrt also aus, bei der Schrock, erträgt ihr Schweigen, ihre Launen, ihre Wut. Erträgt eine Ehe, die keine ist! Des Kindes wegen erträgt Klatt und hält aus und weil er irgendeinen Menschen braucht, wie kalt der auch sei. Einen Strohhalm in dieser Welt der Barbarei. Die Schrock ist sein Strohhalm, und sie weiß es genau. Das gibt ihr Macht. Macht über Klatt, die sie ausspielt!
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