Da liegt sie nun und wartet.
Warten? Worauf soll ich warten? Auf den Schlaf? Auf Frau Wenzke? Auf den Tod? Ja, auf den will ich warten. Der kommt bestimmt, der enttäuscht mich nicht.
Woher sollt Mutter Jettchen wissen, dass sie Frau Wenzke Unrecht tut? Frau Wenzke hat es ernst gemeint, als sie gestern Abend sagte: Gute Nacht! Bis morgen. Und übermorgen gehen wir aufs Amt!
Frau Wenzke hat, wie Mutter Jettchen auch, an den anderen Tag geglaubt. Woher sollte Mutter Jettchen wissen, was an diesem Tag weit weg von diesem Viertel geschehen ist?
In der Frühe hat Frau Wenzke das Haus Kronprinzenstraße Nummer zwölf verlassen und ist, wie an jedem Morgen, zu ihrer Arbeitsstelle gefahren. Wie alle Tage musste sie sich auch heute beeilen, um hinter die Theke der Werkskantine zu kommen.
Am Spätnachmittag wollte sie Kuchen kaufen und Mutter Jettchen damit überraschen. Die alte Frau wird sich freuen, einmal frischen Kuchen essen zu können. So dachte sie.
Sehr vorsichtig wollte sie ihr anbieten, das Haar zu waschen und zu frisieren. Behutsam wollte sie das sagen. Und die langen, eckigen Fingernägel beschneiden. Mutter Jettchens Fingernägel sehen aus wie Tierkrallen, gelblichbraun und voller Verdickungen.
Irgendwer muss das doch einmal bei der alten Frau tun!
So dachte Frau Wenzke, als die Straßenbahn sie durch die Nacht zur Kantine fuhr.
Alle Fahrgäste waren bereits ausgestiegen, die Bahn hatte die Endstation erreicht. Frau Wenzke saß noch auf ihrem Platz, tief in Gedanken. Wohl auch ein bisschen müde. Der Fahrer wandte den Kopf, sah sie an, grinste – Frau Wenzke merkte nichts. Sie blickte weiter zum Fenster hinaus, sah ihr Spiegelbild in der Scheibe.
„Hallo!“ Der Fahrer rief nicht übermäßig laut. „Endstation, meine Dame!“
Frau Wenzke zuckte zusammen, lief zur Tür und sprang in die Nacht hinein. Sie sprang direkt in das schwarze Loch zwischen den beiden Scheinwerfern eines Autos, die auf sie zurasten. Ein dumpfer Schlag, Quietschen von Rädern, zerspringendes Glas – etliche Meter weiter in einer Anlage kam der Wagen zum Stehen.
Frau Wenzke lag auf der Straße, beinahe unter der Straßenbahn. Seltsam verbogen lag sie auf dem Pflaster. Aus ihrem Mund floss Blut, dicke, rote, zerspringende Blasen. Auch aus Nase und Ohren floss es.
Neben ihr kniete der Straßenbahnfahrer und sagte immerzu: „O Gott! O Gott!“
Menschen kamen gelaufen, später hastete ein Rettungswagen heran. Ein Arzt beugte sich über sie, horchte, leuchtete in ihre starren Augen – „Ex!“ sagte er und gab Zeichen, dass man Frau Wenzke wegtrage.
Das geschah in der Frühe, als Mutter Jettchen einem schönen Tag entgegen schlief.
Wer berichtet ihr von diesem Vorfall? Mutter Jettchen liest keine Zeitung, sie bekommt auch keine. Zeitung, das ist für sie nur raschelndes Papier, das sie in den Ofen wirft, um anzuheizen. Wenn sie liest, dann liest sie mit den Fingern. Aber auch das hat sie schon lange bleiben lassen.
Wer soll ihr das berichten?
Sie wartet am nächsten und übernächsten Tag auf ein Zeichen von Frau Wenzke. Dann gibt sie es auf, hinter dem Spalt der Tür zu warten.
Eine Reihe von Tagen ist seitdem vergangen.
Mutter Jettchen sitzt sich in der Küche auf dem weißen Stuhl mit den vielen Kissen. Ihre Hände mit den langen eckigen Nägeln liegen schlaff im Schoß. Das Gesicht streckt sie ein wenig zur Decke, als lausche sie. Manchmal streichelt sie ihre dünnen Arme, als wäre ihr kalt. Ihre Hände verschieben die faltige Haut auf den Knochen, dann legen sie sich wieder auf den warmen Platz zurück.
Oder sie befühlen das Zifferblatt des Weckers, der neben ihr auf der Fensterbank durch die Zeit hetzt.
Neunzehn Uhr dreißig schon?
Vor kurzem hat sie hier bei mir gesessen, wir haben Tee getrunken und sie hat versprochen, mit mir aufs Amt zu gehen!
Vielleicht war das auch gar nicht wahr!
Plötzlich springt Mutter Jettchen auf, als wäre ihr etwas Entscheidendes eingefallen.
Es ist Zeit, dass ich mir das Abendbrot mache.
Eine Tasse voll Suppe aus Haferflocken – mehr braucht sie nicht. Das könnte schon zu viel sein.
Von Tag zu Tag werden ihre Vorräte kleiner. Niemand kommt und füllt sie auf. Mutter Jettchen muss sehr haushalten! Sie muss das, was sie in den Schrankfächern findet, einteilen.
„Was soll’s? Es ist ja alles nichts!“ spricht sie laut gegen die Fensterscheibe. „Aus und vorbei. Wie so vieles im Leben!“
Sie schlürft die Suppe – die wärmt ihren Körper und lässt sie für kurze Zeit auf andere Gedanken kommen.
Es ist stockfinster geworden. In der Kronprinzenstraße sind die wenige Lichter angegangen. Das wenige Licht fällt in eine leere, eine tote Straße. Es bescheint die vernagelten, die verletzten Häuser, die auf den letzten Schlag warten.
Im dritten Hinterhof, in der dritten Etage der Nummer zwölf, sitzt Mutter Jettchen hinter der dunklen Scheibe Stunde für Stunde, Tag für Tag.
Sie geht schlafen, wenn die Müdigkeit endlich gekommen ist. Sie steht auf, wenn sie Lust dazu hat.
Über der Stadt hängt Nebel, der sich von den schwarzen, glänzenden Bäumen kämmen lässt. Er wallt über die Dächer in die Höfe. Er versteckt diese Stadt mit ihren schönen und hässlichen Straßen. Er lässt die Menschen meinen, sie seien allein auf der Welt.
Der Nebel bringt Kälte mit.
Mutter Jettchen, die die meisten Stunden auf dem Küchenstuhl mit den vielen Kissen zubringt, Mutter Jettchen friert. Sie friert so sehr, dass ihre wenigen Zähne aufeinander schlagen, dass sie vor Kälte Schmerzen in den Gliedern bekommen hat. Oder ist es Hunger, den sie seit Tagen nicht mehr gespürt hat. Das Letzte ihres Vorrates ist lange schon aufgebraucht. Das ist gut so, sagte sie sich, dann läuft das Allerletzte schneller ab.
Sie will die Gasröhren im Ofen anzünden. Ihre Hand ritzt geschickt das Streichholz an, gekonnt fährt sie damit einmal an der linken Röhre entlang, dann an der rechten - aus der Backröhre strömt wohlige Wärme. Wie schnell sich die Küche erwärmt! So angenehm, so herrlich ...
Die Wärme macht Mutter Jettchen müde. Sie nickt ein.
Sie weiß gar nicht, wie lange sie auf dem Stuhl geschlafen hat. Sie wird wach, weil die Küche wieder kalt ist.
Mutter Jettchen braucht Zeit, um sich besinnen zu können. Wahrhaftig: vorhin hat sie die Gasröhren angezündet, und jetzt brennen sie nicht mehr! Vorsichtig streckt sie die Hand in die Backröhre. Nichts! Weder links noch rechts spürt sie Wärme. Sie steckt sogar den Kopf hinein – kein Feuer, keine Wärme.
Es gibt kein Gas!
Sie befühlt die Knöpfe am Herd, schaltet hier, dreht da, nichts! Sie prüft den Haupthahn, riecht wieder in die Backröhre hinein – nein, es gibt kein Gas!
Irgendwo sind Reparaturarbeiten nötig geworden, tröstet sie sich. Das kann nicht lange dauern.
Sie wartet, sie prüft abermals – Mutter Jettchen weiß nicht, dass die Kronprinzenstraße gestorben ist. Für diese Häuser wird es nie mehr Gas geben.
Mutter Jettchen befühlt schon lange nicht mehr das Zifferblatt des Blechweckers. Was bedeutet es, wenn ihre Fingerkuppen den Zeiger auf der Sieben finden? Oder auf der zwölf? Von der Zeit will sie nichts mehr wissen. Egal, ob es Morgen oder Abend ist. Völlig egal!
Und eines Tages hat der Wecker aufgehört eilig durch die Zeit zu rennen. Für Mutter Jettchen ist der Wecker gestorben.
Jetzt ist der Tod an ihre Wohnungstür gekommen, wo an der Tür das uralte Messingschild hängt, auf dem er lesen kann: ‚Henriette Bräsicke, Ww’.
Sie spürt, dass er ganz nahe bei ihr ist.
Seinen Tritt spürt Mutter Jettchen nicht auf dem Fußboden. Der Tod geht auf leisen Sohlen.
Er kann aber auch wie ein Tier sein, das im Hinterhalt lauert und irgendwem plötzlich an die Gurgel springt. Das weiß sie.
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