Eigentlich war es schon zu spät, um zu frühstücken, da es in einigen Stunden wieder dunkel werden würde, aber durch die ganze Aufregung mit Sayas Verletzung hatte Kris keine Zeit einkaufen zu gehen und er hatte rein gar nichts mehr im Haus, um ein warmes Essen zuzubereiten. Kris hörte, wie ein Schlüssel ins Loch gesteckt wurde und sich umdrehte und dann ging die Haustür quietschend auf. Raven und Shania kamen lachend hereingestürmt und die Stille war verflogen. Als sie in die Küche kamen, sahen sie erstaunt von Kris zu Saya. Shania schmunzelte ein wenig und Raven runzelte die Stirn und sein Mund verzog sich, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Kris wusste nicht, wie er den Blick seines Bruders interpretieren sollte, ging aber davon aus, dass er wohl weniger begeistert darüber war, was er hier vorfand. Raven wusste zwar, was Kris für Saya empfand und verstand es mehr, als jeder andere, da es ihm mit Shania genauso ging, aber dennoch war es ihm sehr wichtig, dass nun er den Posten als Clanoberhaupt antrat und genau das hatte er Raven versprochen. Kris stand vom Stuhl auf und ging auf die beiden zu. Er schloss sie fest in die Arme.
»Glückwunsch, ihr beiden!« Raven hatte ihm erzählt, dass sie heiraten würden, aber er hatte noch keine Gelegenheit gefunden, ihnen zu gratulieren. Shania lächelte ihn an und dann sah sie zu ihrer besten Freundin herüber, die apathisch auf dem Küchenstuhl saß und die Haut vom Croissant abzupfte. Kris sah, wie sie auf sie zuging und sich zu ihr setzte. Saya sah nicht einmal zu ihr auf. Kris fühlte sich schuldig und es tat ihm weh, sie so zu sehen. Er war an allem schuld. Er hätte sich nie auf sie einlassen dürfen, dann wäre das alles nicht so schwer, doch wie hätte er sich von dieser Wahnsinnsfrau fernhalten sollen. Sie gab ihm das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Sie war seine Seelenverwandte, seine Luft zum Atmen, sein Herz, das ihm am Leben hielt. Doch all das musste er aufgeben. Er wandte sich wieder seinem Bruder zu und dieser sah ihn mit ernster und zugleich besorgter Miene an. Seine Augen, waren schwarz, wie die eines Raben und Kris spürte den Drang, sich zu verwandeln und einfach hinfort zu fliegen. »Ich stehe zu meinem Entschluss«, flüsterte er seinem Bruder zu, doch dieser sah ihn noch immer zweifelnd und mit hochgezogenen Augenbrauen an. Seine golden glänzende Stirn war in Falten gelegt und er stemmte die Arme in seine Hüften. »Ich hoffe, das bleibt auch so.« Die kalten Worte seines Bruders machten Kris ziemlich zu schaffen. Wie konnte es ihm so egal sein, was er dabei fühlte? Geknickt nickte er. »Es fällt mir nicht leicht, aber es ist meine Pflicht.« Es wäre Ravens Pflicht gewesen, aber der Auserwählte kann die Bürde an den zweiten Nachfolger abgeben, wenn er Gründe hatte, die es verhinderten, den Posten anzunehmen. Der zweite musste sich dann fügen und konnte keinen Schritt zurück machen. Das war der Nachteil daran. Er seufzte innerlich. Ravens Miene wurde entspannter und es lag ein leichter Hauch von Mitleid in seinen Augen.
»Ich weiß.« Leise murmelte er diese Worte Kris zu und ging dann zu seiner zukünftigen Frau, die Saya gerade tröstend im Arm hielt. Erneut spürte Kris dieses Stechen in der Brust, als er Saya so verzweifelt sah. Sie strich sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht und stand dann auf. Sie drehte sich zu Kris um und setzte ein erzwungenes Lächeln auf. »Die Sonne geht gerade unter. Ich denke, ich werde langsam gehen. Danke für das Essen und für-« Sie sagte nichts mehr, sondern sah nur auf ihren Arm, der vor kurzem noch halb verkohlt war. Von der Wunde war rein gar nichts mehr zu sehen. Kein Kratzer. Nichts. Kris schluckte schwer, als ihm bewusst wurde, dass das ein Abschied für immer war und er konnte ihr nicht einmal richtig Lebewohl sagen, da Shania und sein Bruder anwesend waren. Er nickte ihr zu und sah ihr traurig hinterher, als sie aus der Tür verschwand.
Shania trat zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Das Leben ist hart.« Ohne seinen Blick von der reizenden Vampirlady abzuwenden, die gerade die Straße hinunter zur Bushaltestelle trottete, seufzte er verzweifelt und symbolisierte Shania mit einem Kopfnicken, dass er ihr zustimmte. Als Saya außer Sichtweite war, schloss er die Tür und ging stumm die Treppe zu seinem Schlafzimmer hoch.
Die Sonne war vollständig vom Himmel verschwunden.
Kein einziger Lichtstrahl war zu sehen, kein roter Streifen am Himmel, nur Dunkelheit. Das einzige Licht, waren die Laternen am Straßenrand, die unheimlich flackerten und die Straße dennoch in ein angenehmes Licht hüllten, so dass man was erkennen konnte. Saya hätte natürlich auch ohne zusätzliches Licht alles sehen können, denn wie auch Katzen, besaßen Vampire gute Augen, die bei Nacht und allgemein bei Dunkelheit sehen konnten. Das musste auch so sein, denn Vampire waren nur nachts unterwegs und jagten auch zu dieser Zeit. Saya ernährte sich hauptsächlich von Verbrechern, denn damit war allen geholfen. Die Bösewichte waren beseitigt und sie war satt und griff keine Unschuldigen an. Es profitiere somit jeder. Doch leider hielt das nicht jeder Vampir in dieser Stadt so. Gerade in London war es besonders schlimm. Viele kamen hierher, weil sie meinten, in einer so großen Stadt wie London würden sie nicht auffallen und dann benahmen sie sich wie wilde Tiere.
Den Dreck konnten Saya und ihre Freunde hinterher wieder wegmachen. Schließlich war Shania, ihre beste Freundin, als Hexe dafür zuständig, dass keiner was von der Existenz der übernatürlichen Wesen herausbekam. Sie unterstützte sie dabei natürlich und so kam es, dass sie schon öfters zusammen auf Jagd gegangen waren. Es war natürlich ein wenig merkwürdig, Artgenossen zu jagen, aber wenn sie sich nicht benehmen konnten und sich nicht an die Regeln hielten, mussten sie mit den Konsequenzen leben. So war das nun einmal. Saya fuhr sich mit der Hand durch ihr langes, leicht welliges Haar. Sie überlegte, in nächster Zeit wieder öfters mit auf Jagd zu gehen. Sie hatte das in den letzten Wochen ein wenig vernachlässigt, aber als Ablenkung würde ihr das sicher gut tun. Leise seufzte sie vor sich hin. Sie hatte deutlich gespürt, dass es Kris genauso schwer fiel, wie ihr. Warum konnte es nicht einfacher sein?
Immer war sie es, die nicht glücklich sein durfte. Sie kickte einen Stein weg, der vor ihr auf dem Weg lag. Nach der nächsten Kreuzung befand sich die Bushaltestelle. Sie hoffte, dass sie nicht solange würde warten müssen. Sie lief an einer kleinen Gasse vorbei und hörte plötzlich, wie jemand schrie. Es klang nach einem Kind. Sie eilte hin und sah wie ein kleiner Junge über ein Mädchen beugte und sich an ihr zu schaffen machen wollte. »Hey!« Entsetzt und wutentbrannt schrie Saya den Jungen an, um ihn von dem Mädchen wegzulocken. Erschrocken fuhr er hoch und ließ von der Kleinen ab. Diese ergriff ihre Chance und rannte weg. Saya sah ihr nach. Es schien, als hätte er sie noch nicht verletzt. Plötzlich stürmte der Junge auf sie zu. Er packte sie an den Handgelenken und wollte sie an die Wand drängen.
Saya konnte ihn zurückhalten. Sie sah ihn an und plötzlich bemerkte sie spitze Zähne hervorblitzen. Er fletschte sie und machte Anstalten, sie zu beißen, als sie ihn packte und gegen die Wand schleuderte. Im nächsten Moment stand sie wieder direkt neben ihm, hob ihn hoch und drückte ihn gegen die Wand. Ihre Zähne waren nun ebenfalls ausgefahren.
Erschrocken und mit geweiteten Augen sah er sie an, als er sah, dass sie ebenfalls ein Vampir war. »Du , du, du bist ein, ein-« Der Junge stotterte und wirkte sehr verängstigt, als wäre all das neu für ihn. Saya nickte und lockerte ihren Griff ein wenig. »Ja, ich bin genau wie du ein Vampir.« Der kleine Junge schluckte. »Jetzt erzähl mir doch mal, warum du das Mädchen angegriffen hast und warum du dann auch noch auf mich los bist. Es ist ziemlich waghalsig, einfach irgendwelche Leute anzugreifen. Wie du siehst, weiß man nie auf wen oder was man trifft.« Ihre Stimme war tadelnd, so wie die einer Mutter oder einer Lehrerin. Beschämt senkte der Junge seinen Kopf. Saya hatte den Eindruck, dass er das alles gar nicht wollte. »Ich weiß nicht, warum ich das getan hab. Es war so ein Drang. In meinem Kopf dröhnte alles und es war, als ob eine Stimme zu mir sprach und mir das befiehl.« Verzweifelt vergrub er seinen Kopf in seine Hände. »Ich wollte doch niemandem wehtun, aber ich hatte so einen Hunger.« Tränen stiegen ihm in die Augen und Saya bekam ein wenig Mitleid. Sie legte ihren Arm um seine Schulter. »Klingt, als wäre das alles für dich noch sehr neu.«
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