Es war viel mehr eine Frage, als eine Feststellung. Der Junge hob kurz seinen Kopf, sah sie mit schuldbewusster Miene an, nickte und senkte seinen Blick dann wieder. »Es geschah gestern Nacht. Als ich auf dem Heimweg von einem Freund war, standen am Straßenrand drei Kerle, die sich unterhielten. Als sie mich sahen, wurden sie aufmerksam.
Ich konnte spüren, wie sie mir folgten. Mein Schritt wurde immer schneller, aber es half nichts. Bei der nächsten Gasse hatten sie mich eingeholt und griffen mich an.« Er schluchzte. »Immer wieder bissen sie mich und fuhren mit ihren dreckigen Krallen über meine Haut.« Angeekelt von der Erinnerung schüttelte er sich. »Es war grauenvoll.« Saya streichelte seinen Kopf und kleine Tränen kullerten über seine Wangen, hinunter zu seinem Kinn und tropften schließlich auf den Asphalt. »Es kam mir vor wie Stunden, die sie mich quälten und dann waren sie plötzlich weg. Ich lag ewige Zeit einfach nur in der Gasse und dachte, ich würde sterben, doch das tat ich nicht. Ich überlebte all dies und naja, als ich dann plötzlich empfindlich bei Licht reagierte, in die Dunkelheit floh, Hunger auf Blut bekam, Herzklopfen von Weitem hören konnte und mir Fangzähne wuchsen, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich merkte, dass sich etwas verändert hatte und da ich schon einige Vampirbücher verschlungen hatte, wusste ich auch, was ich war. Was diese Typen waren, die mich zu dem gemacht haben, was ich jetzt bin.« Saya nickte, denn sie hatte verstanden. Sie wusste nur zu gut, wie der kleine Junge sich im Moment fühlte. Vor fünf Jahren war es ihr genauso gegangen. Sie wusste, wie schwer es war, sich zu kontrollieren, wenn man niemanden hatte, der einem dabei half. Normalerweise blieb ein Vampir, der einen wandelte, bei einem, um einen zu lehren, wie man damit umging, wie man jagte, wie man sich im Griff hatte und wie man nicht auffiel. Doch es gab leider auch Vampire, die zum Spaß Menschen quälten und diese in Vampire verwandelten und dann einfach zurückließen mit ihrem Blutdurst, ihrem Hunger. Es verstieß gegen den Codex, aber dennoch gab es Vampire, die dagegen verstießen. Saya war, abgesehen von ihren Peinigern, bisher keinen begegnet, aber anscheinend waren wieder welche in der Stadt. Sie sah den Jungen mitleidig an. Sie hatte sich an den Vampiren gerächt, die ihr das angetan hatten und sie würde auch für den Jungen Vergeltung üben, das schwor sie sich. Er war noch viel zu jung - höchstens zehn - um ein Vampir zu werden. Er könnte niemals erwachsen werden. Dies war ein weiterer Codex.
Man durfte keine Minderjährigen wandeln. Kinder standen unter einem besonderen Schutz. Ärger kroch in Saya hoch und sie wollte die Vampire finden, die dafür verantwortlich waren und sie eigenhändig enthaupten. Sie drückte den Jungen ganz fest an sich. Seine Eltern machten sich bestimmt Sorgen, dachte sie sich, aber sie konnte ihn nicht nach Hause bringen. Er hatte sich nicht unter Kontrolle und das wäre das reinste Massaker. Zudem kommen die Vorwürfe, die er sich hinterher machen würde, wenn er seine Eltern tot vor sich sähe und realisierte, dass er ihnen das angetan hatte. Mal abgesehen davon, dass seine Eltern das vermutlich nicht verstehen würden. Saya schüttelte ihren Kopf. Sie war fest entschlossen, ihm zu helfen. Sie ließ von ihm ab, beugte sich runter zu ihm und sah ihn tief in seine unschuldig wirkenden Kulleraugen. »Wie wäre es, wenn du erst einmal mit zu mir kommst. Ich könnte dir beibringen, dich unter Kontrolle zu bringen und damit umzugehen.
Glaub mir, ich weiß nur zu gut, wie das ist.« Sie wuschelte aufmunternd durch sein Haar. Der Junge lächelte sie an und nickte. Er wirkte erfreut darüber. »Wie heißt du eigentlich, Kleiner?« Sie sah ihn neugierig an. »Eric. Ich heiße Eric.«
Der kleine Eric wirkte mit seinem kurzen dunkelblonden Haar und seinen strahlend blauen Augen wie ein unschuldiges kleines Kind, aber im Moment war er eine Zeitbombe, die gleich explodieren konnte und die dringend entschärft werden musste. »Na, dann, komm mal mit, Eric.«
Sie nahm den Jungen an die Hand und lief gemeinsam mit ihm zu ihrem Haus, das sich in Harrow befand. Es war ein abgelegenes typisch englisches Haus in einer kleinen Seitengasse. Es lag ziemlich versteckt und war umgeben von Bäumen, die viel Schatten warfen. Das perfekte Zuhause für einen Vampir also. Sie zückte ihren Schlüssel, steckte ihn ins Schlüsselloch und drehte herum. Quietschend und knarzend ging die dunkle schwere Holztür auf. Ein leicht modriger Geruch kam den Beiden entgegen und Saya ging sofort hindurch zur Küche, um erst einmal durchzulüften. Das Haus hatte schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel und es war nicht ungewöhnlich, dass es ein wenig moderte. Saya müsste es auch mal renovieren lassen. Eric wartete im Flur und sah sich neugierig um. Er sah freudestrahlend zu Saya auf, als diese wieder auf ihn zugelaufen kam. »Schön hast du es hier.« Sein Lächeln erhellte den Raum. Sayas Mundwinkel verzog sich ebenfalls zu einem sanften Grinsen. Sie sah sich um und zuckte mit den Achseln, als wäre es nichts Besonderes. Die Wände waren schlicht gehalten. Nur hier und da mal schwarze und lilafarbene Ornamente und Streifen. Dennoch gab es eine gewisse Wärme ab und man fühlte sich sofort wohl. An den Wänden hingen Bilder von ihren Freundinnen und ihr. Hier und da standen ein paar Figuren herum. Das meiste waren irgendwelche Andenken aus ihrem Leben vor dem Vampirdasein. Sie ging geradeaus hindurch in die Küche und diesmal folgte Eric ihr. »Setz dich doch!« Sie deutete auf einen der Barhocker, die am Tresen standen und dann ging sie schnurstracks auf den Kühlschrank zu. Schwungvoll öffnete sie ihn und alles was zu sehen war, war rot. »Hast du Hunger?« Sie wandte sich zu Eric um und sah ihn fragend an. Er nickte nur. Sayas Blick wanderte wieder in den Kühlschrank und sie griff hinein, holte zwei Blutkonserven heraus und legte sie auf den Tresen. Dann ging sie an den Schrank, holte noch zwei Gläser heraus und stellte sie zu den Blutkonserven, die sie aufriss und deren Inhalt sich nun in den beiden Gläsern verteilte. Das eine Glas schob sie Eric hin und das andere setzte sie an ihre Lippen und nippte daran. Als sie es zurückstellte, waren ihre Lippen blutverschmiert und sie wischte mit dem Handrücken darüber. Eric sah das Glas und den blutigen Inhalt darin skeptisch an und sah dann verunsichert zu Saya auf. Sie setzte sich neben ihn auf den Barhocker und wuschelte durch sein Haar. Aufmunternd lächelte sie ihn dabei an. Blut trinken war am Anfang nicht leicht, das wusste sie nur zu gut. Sie hatte sich auch geekelt, aber es war immer noch besser, als Unschuldige zu töten und auszusaugen. Und da man die Kontrolle verlor, wenn man nicht genügend Blut zu sich nahm, war das nun einmal unvermeidbar. »Ich weiß, es ist nicht leicht, Eric, aber es geht nicht anders. Du willst doch nicht wieder jemanden angreifen, oder?« Er schüttelte den Kopf und nahm das Glas in die Hand. Im Nu hatte er es ausgetrunken. »Fühlst du dich besser?« Saya stellte die Gläser in die Spüle und fing an, abzuwaschen. »Ja, irgendwie schon.« Erics Stimme war ruhig und doch lag Unsicherheit darin. »Ich fühl mich nicht mehr hungrig und irgendwie ruhiger.« Er stand auf und ging zur Spüle. Er griff nach dem blau weißen Geschirrhandtuch, das an dem Haken an der Wand hing und trocknete die Gläser ab, die Saya gespült hatte. »Ich fühl mich auch lebendiger und als hätte ich mehr Kraft, mehr Elan als vorher.« Saya nickte ihn lächelnd an. »Das ist ein völlig normales Gefühl.«
Beide zuckten erschrocken zusammen und fuhren herum, als das Telefon plötzlich klingelte. Der Ton war schrill und laut und für einen Vampir fast unerträglich. Saya rannte in den Flur, wo das Telefon stand und nahm ab. »Hallo?« Am anderen Ende der Leitung war ein Atmen zu hören und es rauschte fürchterlich. Dann meldete sich eine ihr nur allzu gut bekannte Stimme zu Wort. »Say, hey!« Shania hatte die Angewohnheit, alle Namen abzukürzen und das obwohl Saya nun echt kein langer Name war. »Alles ok bei dir, Kleine?« Saya hatte die Sorge in Shanias Blick gesehen, als sie sich vorhin bei Raven und Kris gesehen hatten. Bei dem Gedanken an Kris durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Sie fasste sich an ihr Herz. Eric sah sie besorgt an, doch sie versuchte zu lächeln, um ihn zu beruhigen. »Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, aber naja, was soll ich denn bitte tun?« Ein Seufzen kam aus dem Telefon. »Du bist mir vielleicht eine Nuss. Ich könnte an nichts anderes denken.«
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