„Zwei Söhne hast du schon verloren“, sagte der junge Fürst. „Du bist also bereit, auch noch deinen letzten Sohn zu verlieren. Ich weiß, was mir droht. Aber ich reite trotzdem.“
Begleitet von zweihundert Reitern brach Abunnuzal Khan von Chunsach auf, ließ sie aber auf halber Wegstreck zurück und galoppierte mit nur acht auserwählten Gefolgsleuten, darunter auch Hadschi Murat, weiter auf das Lager der Muriden zu.
Hamsat Beg empfing ihn mit allen Ehren und gab sich äußerst liebenswürdig.
„Willkommen, Fürst, und hab Dank, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Sicherlich werden wir die Angelegenheit rasch zu einem guten Abschluss bringen. Wenn du dich vorher noch mit deinen Brüdern beraten willst, dann bitte ich dich, sie im Zelt dort drüben aufzusuchen. Meine Leute führen dich gern dorthin.“
Abunnuzal schwankte noch in seiner Meinung, ob das unerwartete Wohlwollen des Imams echt sei oder geheuchelt. Aber als er in das Zelt trat, wo ihm seine Brüder fragend entgegenblickten, stürzten sich Hamsat Begs Anhänger auf die Begleiter des jungen Fürsten und begannen sie niederzumetzeln. Durch die Schüsse und Schreie aufgeschreckt, stürmte Omar als Erster ins Freie hinaus, wurde aber sofort von mehreren angegriffen und erschlagen. Mit Säbel und Dolch bewaffnet warf sich Abunnuzal auf die Mörder, um den Tod seines Bruders zu rächen. Seine Wut über den Verrat steigerte seine Kräfte. Die ersten Muriden, die es mit ihm aufzunehmen wagten, streckte er mit dem Säbel nieder, doch als ihm selbst ein Hieb die Wange aufschlitzte und ein anderer seinen Arm traf, ließ er die Klinge fallen. Hadschi Murat, einer der wenigen noch Überlebenden, versuchte ihm zu Hilfe zu kommen, wurde aber durch seine Gegner, die ihm selbst schwer zusetzten, abgedrängt. Er sah, wie Abunnuzal die eine Hand gegen die herunterhängende Backe drückte und sich mit dem Dolch in der anderen gegen seine Angreifer verteidigte, bis er schließlich seinen Wunden erlag.
Gleich darauf schleifte Hamsat Beg den kleinen achtjährigen Bulatsch aus dem Zelt. Das Geschrei des Jungen, der befürchtete, genauso abgeschlachtet zu werden wie die anderen, fuhr Hadschi Murat so sehr in die Glieder, dass er plötzlich von Grauen gepackt wurde. Die kurze Unaufmerksamkeit seiner Gegner zur Flucht nutzend, schwang er sich aufs Pferd und sprengte davon, verfolgt von einem Hagel von Speeren, den die Muriden hinter ihm her schleuderten. Er war der Einzige aus Abunnuzals Gefolge, der dem Gemetzel entkam.
Keiner der Muridenführer hatte sich gegen das Blutbad gestellt, auch nicht Schamil, der darin nichts anderes als eine notwendige, wenn auch harte Kampfhandlung zur Eroberung Awariens sah. Im Kaukasus war man nie zimperlich mit seinen Feinden umgesprungen, und ein Verbündeter der Russen war ein Todfeind.
Hamsat Beg selbst hatte mit diesem Anschlag seinen lange vorbereiteten Plan durchgeführt und damit das Versprechen eingelöst, das er Aslan Khan gegeben hatte. Der Widerstand der Bewohner von Chunsach war gebrochen, und Panik brach in der Stadt aus, als der Imam der Khanin die zerhauenen Leichen ihrer beiden Söhne schickte. Fast kampflos zogen die Muriden ein.
Pachu-Bike aber wehrte sich bis zuletzt. In die Enge getrieben, entwanden ihr die Feinde schließlich den Säbel und enthaupteten sie.
Hamsat Beg ließ sich nun selbst zum Khan von ganz Awarien ausrufen und zog, sich über sein Muridengelübde der Enthaltsamkeit und Selbstverleugnung hinwegsetzend, in den Palast von Chunsach mit all seinem gottlosen Luxus ein.
Mit großer Genugtuung nahm Aslan Khan in Tarku den Sieg Hamsat Begs zur Kenntnis. Besonders freute er sich über den Tod Pachu-Bikes, der Frau, die einst seine Verlobung mit ihrer Tochter Sultanetta wieder rückgängig gemacht hatte. Seine lange Geduld war endlich belohnt, sein listig ausgeheckter Plan verwirklicht worden. Hamsat Beg hatte ihn gerächt. Wie klug war es von ihm gewesen, diesen gewissenlosen Ehrgeizling damals aus der Haft bei den Russen freizubitten und ihn zum willfährigen Werkzeug seiner Abrechnung mit der Khanin von Chunsach zu machen.
Im Überschwang seiner Dankbarkeit schickte er unverzüglich einen Läufer nach Chunsach zu Hamsat Beg mit einer Botschaft, die in einer kostbaren goldenen Uhr aus der Werkstatt eines Goldschmieds in Tiflis steckte . „O treuer Hamsat!“, hieß es darin in schwärmerischen Tönen. „Von jetzt an bist du mein Sohn. Zusammen werden wir das Land von den Ungläubigen reinigen.“
Als Seiltänzer zwischen den Fronten vergaß Aslan Khan jedoch nicht, dem Läufer noch einen zweiten Brief mitzugeben, in dem er Hamsat Begs Grausamkeit anprangerte und mit Rache drohte. Gerissen wie er war, wollte er sein Gesicht vor den Russen wahren: Man konnte nie wissen, wie sich der Wind drehte.
Schneller als erwartet blies der Wind Hamsat Beg ins Gesicht. Nicht die Russen setzten ihm zu, die Blutrache seiner Landsleute sollte ihm zum Verhängnis werden.
Mord an einem Angehörigen wurde blutig gerächt, und wer der Blutrache zum Opfer gefallen war, durfte sicher sein, dass auch sein Tod wiederum gesühnt wurde. Generationen lang herrschte zwischen den verfeindeten Sippen dieses Gesetz, manchmal aber auch wurden in Kämpfen von nur wenigen Tagen und Nächten sämtliche Männer und Knaben niedergemacht und damit ganze Familien ausgerottet.
Im Kaukasus, dessen Bewohner sich alle zur Blutrache bekannten, durfte der Mord an Pachu-Bike und ihren Söhnen nicht ungesühnt bleiben. Als Vollstrecker fühlten sich Hadschi Murat, der bei der Ermordung der Fürstensöhne Zeuge gewesen war, und sein älterer Bruder Osman aufgerufen. Beide hatten in ihrer Jugend eine Zeitlang im Palast des Khans von Chunsach gelebt und den Söhnen Pachu-Bikes sehr nahegestanden. Als Kinder hatten sie oft miteinander gespielt. Außerdem war ihr eigener Vater nach dem Tode von Achmet Khan zum Stiefvater des jungen Fürsten Omar gewählt worden, ein Brauch, wie es bei den Kaukasiern üblich war. Darüber hinaus bestand zwischen ihnen noch eine engere, familienähnliche Bindung. Der ermordete Omar war ein Milchbruder von Osman und Hadschi Murat, da deren Mutter auch ihn genährt hatte. Das rührte von einer Gepflogenheit her, nach der Söhne kaukasischer Fürsten meist, außer von ihrer leiblichen Mutter, auch noch von Frauen der Edelleute gestillt wurden, um so eine symbolhafte Verwandtschaft herzustellen. Seine enge Verbundenheit mit der Fürstenfamilie von Chunsach bestimmte von nun an Hadschi Murats Weg. Er und Osman zettelten eine Verschwörung an. Einige Dutzend Muriden, die schon seit einiger Zeit mit ihrem Imam unzufrieden waren, da Hamsat Beg nicht die geheiligte Persönlichkeit war, wie sie einst erhofft hatten, schlossen sich ihnen an. Um der Sache des Muridismus durch sein Verhalten nicht länger zu schaden, hielten sie es für ratsam, ihn möglichst bald loszuwerden, am besten durch einen Märtyrertod.
Der Plan der Verschwörer blieb nicht geheim. Einer von ihnen, ein Vetter Osmans und Hadschi Murats, warnte Hamsat Beg vor dem Anschlag. Doch der Imam unternahm keinen Gegenzug.
„Wer kann die Todesengel abwenden, wenn sie kommen, um meine Seele zu holen?“, meinte er schicksalergeben. „Was Allah beschlossen hat, muss sich vollziehen.“
Tags darauf um die Mittagszeit, es war ein Freitag, rief der Muezzin vom Turm der Moschee die Gläubigen zum Gebet. Wie immer an diesem Wochentag, dem Gebetstag der Muslime, nahm auch Hamsat Beg, der Imam, mit seinem Gefolge an diesem Gottesdienst teil. Von Kopf bis Fuß in ihre Burkas gehüllt, die zottigen Schaffellkappen tief in die Stirn gezogen, gingen sie gemächlichen Schrittes auf die Moschee von Chunsach zu, einem niedrigen Gebäude aus grauen Steinen, das in seiner Schlichtheit und Anspruchslosigkeit das harte, karge Leben im Kaukasus widerspiegelte. An diesem Freitag im September, an dem sich die Berggipfel hinter tief hängenden Wolken verbargen, lastete eine ungewöhnliche Stille in den verlassenen Straßen der Stadt.
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