Entgegen allen Gepflogenheiten im Kaukasus, nach denen eine so schmähliche Kapitulation vor den Russen mit Schimpf und Schande, ja sogar mit dem Tod geahndet wurde, nahmen die Muriden Hamsat Beg wieder in ihren Reihen auf.
Wie schändlich er dieses Vertrauen erneut missbraucht hatte, als er bei der Schlacht um Gimri vor den Russen ausgewichen war, statt sich ihnen in den Weg zu stellen, war bei den geschlagenen und versprengten Muriden unbemerkt geblieben. Im Bewusstsein darauf, dass sie ihn im Führungskreis um Kasi Mullah und Schamil gesehen hatten, wagte er es wieder, sich bei ihnen blicken zu lassen.
Kasi Mullah, der erste Imam von Dagestan, war tot, Schamil ebenfalls oder wenigstens verschollen. Wo war der starke Mann, der die Geschlagenen vereinen und führen konnte?
Zu einer Zeit, in der die Russen schon den Endsieg im Kaukasuskrieg feierten, suchten die Muriden einen Nachfolger für Kasi Mullah, der Würden und Bürden eines zweiten Imam von Dagestan auf sich nehmen wollte. Nicht zuletzt durch Aslan Khan geschickt eingefädelt, zögerte Hamsat Beg nicht, als ihm die Muriden in dieser schwierigen Lage das Amt antrugen. Was er schon immer für sich wollte, Macht und Einfluss, hatte er endlich erreicht.
Zunächst stellte er eine Einheit auf, die sich aus russischen und polnischen Überläufern zusammensetzte und von ihren eigenen Offizieren befehligt wurde. Der Einsatz dieser gut gedrillten Soldaten an der Seite der unabhängigen kaukasischen Guerillakrieger erwies sich jedoch schon bald als Fehlschlag. Besonders in die Polen setzte er so unbeschränktes Vertrauen, dass er sie zu seiner persönlichen Leibwache ernannte: In ihrem Hass auf die Russen, die sie nur als Kanonenfutter in die Schlacht geworfen hatten, schreckten sie vor nichts zurück.
Während der ersten anderthalb Jahre seit seiner Ernennung begnügte sich Hamsat Beg auf militärischem Gebiet hauptsächlich damit, seine Kampfgruppen zu mustern. Desto umtriebiger bemühte er sich um Sympathie bei den Stämmen. Um das Volk vor seinen Karren zu spannen, gab sich der zweite Imam von Dagestan als fanatischer Glaubenseiferer, der sich selbst für seine Niederlage in der Schlacht zu hundertundein Stockschlägen verurteilte. Für den schlauen Fuchs war diese heuchlerische Selbstopferung nur ein Schachzug, mit dem er jeden Zweifel an seiner göttlichen Mission auslöschte und von allen Muriden unbedingten Gehorsam forderte.
Gegen Übeltäter, die sich seinen Anforderungen nicht fügten, ließ er keine Milde walten, obwohl er selbst in seiner Jugend ein Sünder gewesen war und deshalb wissen musste, wie leicht der Mensch seinen Schwächen erliegt. Er stand jetzt so erhaben und unantastbar über ihnen, dass er sie nach Belieben tadeln und antreiben konnte. Hatte der Muridismus den Menschen ohnehin schon fast jedes Vergnügen genommen, so legte der neue Imam ihnen jetzt weitere Verzichte auf und verlangte noch mehr Gebetsübungen. Hohe Strafen standen sogar auf Rauchen und Trinken. Musik und Tanz waren ganz verboten, Reiterspiele und Hochzeitsgelage stark eingeschränkt. Um wenigstens noch einen Hauch von Abwechslung in den nüchternen Alltag zu bringen, wurden bei einigen Stämmen, so bei den Svanen, in den Bergtälern des oberen Inguri, Beisetzungsfeierlichkeiten im Voraus bestellt und veranstaltet, bevor, so befürchtete man, auch sie noch untersagt würden.
Nachdem er so Macht und Ansehen gefestigt hatte und sich etwas Ruhe gönnen wollte, erinnerte ihn Aslan Khan daran, dass die wichtigste Aufgabe noch vor ihm liege:
„Jetzt ist die Zeit gekommen, Pachu-Bikes Sturz in die Wege zu leiten und damit ganz Awarien unter deine Herrschaft zu bringen.“
„Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht“, beteuerte Hamsat Beg, „und auch über das, was danach kommt.“
„Die Russen?“
„Ja, als Sieger über die Khanin und als Herrscher von Awarien werde ich mit einem starken Heer die Ungläubigen das Fürchten lehren.“
„Recht so, räche dich für die Schmach, die sie dir angetan haben.“
„Dein Rat war ausgezeichnet, Aslan.“
„Dann willst du ihn also befolgen?“
„Das verspreche ich dir, schon allein aus Dankbarkeit für deine guten Dienste. Ohne dich würden mich die Russen bestimmt noch in Tiflis gefangen halten.“
„Wann marschierst du also nach Chunsach?“
„Den genauen Zeitpunkt habe ich noch nicht festgelegt.“
„Hast du Angst?“
„Angst?“
„Es gibt immer noch welche, die Pachu-Bike für unüberwindlich halten. Sie haben noch nicht vergessen, wie sie mit dem Säbel Kasi Mullah in die Flucht geschlagen hat.“
„Ich bin nicht Kasi Mullah!“, erklärte Hamsat Beg stolz.
„Dann schlage endlich zu!“
„Noch immer steht die Khanin mit dem Schwert in der Hand zwischen ihrem Volk und dem Muridismus, nach dem sich die Bewohner von Chunsach genauso sehnen wie der gesamte Kaukasus.“
„Ich selbst werde ihr das Schwert aus der Hand schlagen.“
„Dann tu’s doch – je eher, desto besser! Oder hast du etwa Gewissensbisse, weil dich Pachu-Bike in deiner Jugend so großmütig in ihrem Haus aufgenommen hat?“
„Nicht umsonst habe ich damals Chunsach verlassen. Ich wüsste nicht, warum ich diesem Weib dankbar sein sollte. Und selbst wenn – persönliche Gefühle müssen sich unserer großen Aufgabe unterordnen, den ganzen Kaukasus für den Muridismus zu gewinnen.“
Monate waren vergangen, seitdem Schamil mit einem gewaltigen Satz über die Mauer des zerstörten Gimri den Russen entkommen war.
Nach den Verwundungen, die er im Kampf erlitten hatte, dem Sprung in die Tiefe und dem Gewehrfeuer, das die Soldaten dem von der Dunkelheit verschluckten Feind hinterherjagten, schien sein Tod so gut wie sicher. Aber Schamil gab sich nicht auf. Zäh wie er war, schleppte er sich bis zu dem Pfad, der an den Steinhütten der Hirten vorbei steil zu den Berggipfeln um seinen Geburtsort Gimri führte. Niemand traute sich dort hinauf außer Schamil. Als Knabe war er oft den halsbrecherischen Pfad emporgestiegen, sogar bei Nacht, um in aller Frühe von irgendeiner Plattform, einem mit Geröll bedeckten Platz, über dem ständig Wolken und Nebelschwaden hingen, den Aufgang der Sonne zu beobachten.
An diesem Pfad fand ein Hirte den völlig Entkräfteten. Von weitem hatte er ihn dort liegen sehen und war sofort zu ihm geeilt.
„Du bist doch Schamil!“, stieß er überrascht hervor, als er ihm ins Gesicht blickte. „Ich kenne dich noch von früher. Als Junge habe ich dich oft hier gesehen.“
„Ich dich auch“, antwortete der Verwundete mit schwacher Stimme.
„Du blutest ja! Bist du verletzt?“
„Ich brauche Hilfe. Dringend! Lange halte ich es nicht mehr aus.“
„Wir sorgen schon für dich, ich und meine Kameraden. Aber iss erst mal was und trink!“
Aus seiner Schaffelltasche holte der Hirte ein Stück Ziegenkäse und reichte es Schamil zusammen mit einem ledernen Wasserbeutel. Gierig trank der Verwundete und biss dann ein Stück Käse ab, das er, erschöpft und kraftlos wie er war, nur mühsam kauen konnte.
„Bleib ruhig hier liegen“, sagte ihm der Hirte. „Ich hole einen Kameraden. Dann bringen wir dich in Sicherheit.“
Geraume Zeit verstrich, bis sie zu zweit zurückkamen und Schamil hinauf zu ihren Hütten auf den Bergkämmen oberhalb Gimris trugen. In einer dieser dürftigen Behausungen aus unbehauenen und lose übereinander geschichteten Steinen, deren Fugen noch nicht einmal mit Lehm verschmiert waren, legten sie ihn auf ein Lager aus Schaffellen und pflegten ihn, so gut sie es mit ihren unzureichenden Mitteln vermochten. Doch da die Hirten erkannten, dass ihre geringen Kenntnisse in der Heilkunst nicht genügten, um Schamils Leben zu retten, holten sie seinen Schwiegervater, den berühmten Arzt Abdul Asis, und seine junge Frau Fatimat. Schamil hatte im Kampf um Gimri und beim Sprung in die Tiefe schwere Verletzungen erlitten: Zwei Kugeln, die seine Lunge durchlöchert hatten, steckten noch im Körper, einige Rippen waren gebrochen, und mehrere Fleischwunden, von Säbelhieben geschlagen, eiterten.
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