1 ...6 7 8 10 11 12 ...29 Die Wochen und Monate nach Mutters Tod lasteten wie Blei auf Vater und Sohn. Wie ein dumpfer schwerer Schleier hing die Trauer über dem Haus, wehte durch die Räume, dämpfte jedes laute Wort, jede Fröhlichkeit. Dolores versuchte Heinrich aufzuheitern, es glückte ihr nicht. Besonders bedrückend waren die Wochenenden, wenn er mit dem Vater alleine blieb. Jeden Abend betrank sich der Vater und oft versuchte Heinrich ihn verzweifelt am nächsten Morgen wachzurütteln. Montags räumte Dolores kopfschüttelnd die leeren Bourbonflaschen in den Abfalleimer.
„Der Kummer bringt ihn noch um, wenn er weiter so trinkt, wird seine Leber das nicht lange mitmachen“, sagte die dicke Mum eines Mittags beiläufig zu ihm. Da hatte Heinrich gerade seinen zwölften Geburtstag überstanden. Feiern konnte er das nicht nennen. Der Vater hatte seinen Jahrestag vergessen, wie schon die Jahre vorher. Am Abend machte er ein betretenes Gesicht, versprach ihm ein tolles Geschenk, auf das Heinrich vergeblich wartete. Er entschuldigte sich unter Tränen, zog sich eine halbe Stunde später wortlos in sein Arbeitszimmer zurück. Heinrich hörte, wie er eine neue Flasche entkorkte. Weinend schlich er in sein Bett, schlief unter Tränen ein. Die Bemerkung seiner Nanny schürte zusätzliche Ängste in seinem Herzen. Der Vater war der einzige Mensch auf der Welt, der ihm blieb. Was, wenn auch ihm etwas zustieße. Dann wäre er ganz alleine und er fühlte sich doch noch so klein. Manchmal auch überfiel ihn eine grenzenlose Wut und er haderte mit dem Vater und der Mutter, die ihn so früh verlassen hatte. Dann stürzte er in sein Zimmer und trat mit dem Fuß gegen die Schranktür. Dem Vater gegenüber jedoch ließ er sich nichts anmerken. Der hätte ihm möglicherweise auch noch das letzte Quentchen Liebe entzogen. Er überlebte die Jahre mit dem Mut der Verzweiflung, bemühte sich nicht über sein Elend nachzugrübeln. Für ihn gab es nur eine Chance, er musste schnell erwachsen werden, schneller als all die anderen Kinder in der Schule, schneller als die Mädchen in der Nachbarschaft. Und Heinrich wurde erwachsen, lange vor seiner Zeit. Das Gesicht mit den brennenden dunklen Augen wirkte immer eine Spur zu ernst. Seine täglichen Aufgaben bewältigte er klaglos, ja er bemühte sich ein Übriges zu tun. Bald übertrug ihm der Vater auch wichtigere Aufgaben als Abspülen und Putzen und Heinrich erledigte diese Pflichten mit großer Sorgfalt. Wenn er sich jedoch unbeobachtet fühlte, fielen seine Schultern herab und nicht selten kämpfte er mit den Tränen. Stillschweigend sorgte er für den Vater. Er achtete darauf, dass dieser wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zu sich nahm. Mit leisem Vorwurf quittierte er es wenn der Vater sich eine neue Flasche aus dem Schrank holte. Er begann auf den Flaschen des Vaters mit wasserfestem Stift Markierungen anzubringen und er vereinbarte mit dem Vater wie viel dieser pro Nacht trinken durfte. Natürlich hielt sich dieser nicht daran, beschimpfte den Jungen unwirsch. So wurde Heinrich, ohne es zu wollen zum heimlichen Komplizen des Vaters. Da zählte er gerade einmal dreizehn Jahre. Äußerlich gab es im Haus der Gerstones nichts auszusetzen und doch hatte der frühe Tod der Mutter Heinrich die Kindheit geraubt, ihn für immer geprägt. Die Angst einen Menschen, den er liebte zu verlieren, begleitete ihn sein ganzes weiteres Leben. Er konnte diese Furcht gut verbergen, doch stets lauerte sie auf dem Grund seiner Seele, bereit bei der nächstpassenden Gelegenheit hervor zu kriechen, ihm die Kehle zuzuschnüren, ihm die Lebensfreude auszusaugen, ihn zu vernichten.
An einem warmen Sonntagvormittag nahm der Vater ihn zur Seite.
„Heinrich“, sagte er und starrte verlegen auf den Boden, vermied es den Sohn anzusehen, „es wird Zeit, dass wir wieder eine Mutter für dich finden.“
Heinrich erschrak zutiefst. Was sollte diese Ankündigung, die wie eine Drohung klang? Er verstand die Welt nicht mehr. Hatte er nicht alles getan, damit es dem Vater gut ging.
„Ich brauche keine Mutter“, stieß er heftig hervor, „ich habe eine Mutter und die ist tot. Habe ich nicht alles getan, damit du dich wohl fühlst? Sag, was muss ich noch tun?“
Tränen standen in seinen Augen.
„Das verstehst du nicht“, meinte der Vater und kaum hörbar fügte er hinzu, „ich glaube, ich schaffe es nicht, alleine zu sein.“
„Aber du hast doch mich“, schluchzte Heinrich.
„Ich liebe dich über alles, aber ich denke, es ist das Beste für dich.“
Es schien, als sei die Entscheidung schon gefallen. Der Vater versuchte, den weinenden Jungen zu trösten, legte versöhnlich den Arm um ihn. Heinrich stieß ihn schroff von sich und stürzte blind vor Tränen in sein Zimmer, wo er sich heulend auf das Bett warf. Sie erwähnten das Thema nicht mehr. Am übernächsten Wochenende schleppte der Vater diese Weibsperson ins Haus. Sie war jung, sehr jung sogar. Heinrich erinnerte sich, die Frau auf der Beerdigung der Mutter gesehen zu haben. Sie trug dieses aufdringliche Parfüm, hatte ein dünnes Sommerkleid an, das mehr von ihren Brüsten zeigte, als es verhüllte. Sie lachte laut und schrill, war breit geschminkt mit einem scharlachroten Lippenstift, was auf Heinrich vulgär wirkte. Wehmütig erinnerte er sich daran, wie schlicht und unaufdringlich seine Mutter gekleidet und geschminkt gewesen war. Der Vater hatte sich, wie schon seit langer Zeit nicht mehr, herausgeputzt, ein weißes Hemd angezogen, sich rasiert.
„Dein Vater hat dich seit dem Tod deiner Mutter gut versorgt“, stellte sie fest und tätschelte Heinrich gönnerhaft den Arm. Er lächelte bitter.
„Richtig groß bist du geworden, sicher hast du schon eine kleine Freundin.“ Sie wollte ihn an sich drücken, doch Heinrich, der genau das befürchtet hatte, wich mit einer schnellen Drehung aus. Später aßen sie auf der Veranda. Vater hatte den Tisch festlich gedeckt. Mutters weißes Porzellan mit den kleinen blauen Blüten, das sie als einziges Erbstück aus Europa in die neue Welt hinüberretten konnte. Seit dem Tod der Mutter war dieses Festtagsporzellan nicht mehr auf den Tisch gekommen. Es weckte zu viele Erinnerungen an die Tote und sie hatten das Geschirr in stillschweigender Übereinkunft weggeschlossen. Nun stand es auf dem Tisch und Heinrich kam dieses Handeln des Vaters wie ein Tabubruch vor. Die Erwachsenen tranken eine Margarita, die der Vater galant servierte. Sie prosteten sich zu und die Frau beugte sich dabei so weit vor, dass der Vater in ihren weiten Ausschnitt starren konnte. Dabei lachte sie tief und kehlig. Sie war sich ihrer Wirkung bewusst und Heinrich wurde das Gefühl nicht los, diese Frau wollte seinen Vater verführen. Sie aßen Steaks und der Vater bemühte sich ein aufmerksamer Gastgeber zu sein. Er schenkte Wein nach, legte Fleisch vor, reichte die Schüssel mit den gebackenen Kartoffeln. Die beiden leerten zwei Flaschen Wein. Heinrich belauerte sie peinlich berührt. Vater streichelte die Hand der Frau, wenn er sich von Heinrich unbeobachtet fühlte. Er registrierte es trotzdem, missbilligend. Ihr Name war Michelle und sie stammte aus irgendeiner Stadt in Alabama. Der Junge senkte schamhaft den Blick, aufstehen durfte er nicht, denn der Vater hatte ihm eingeschärft, sich tadellos zu benehmen. Leicht angetrunken vollführte der Vater eine fahrige Bewegung. Ein halbvolles Rotweinglas fiel um, der Inhalt ergoss sich über den Tisch und tropfte von dort auf das geblümte Sommerkleid der Frau, wo der Wein einen widerlichen blutroten Fleck bildete. Sie sprang auf, blitzte den Vater an.
„Pass doch auf, du Tollpatsch!“, fauchte sie. Während sie in die Höhe schoss, geriet ihr Teller ins Rutschen, in Zeitlupe kippte er über den Rand des Tisches. Mit angsterfüllten Augen beobachtete Heinrich wie das zarte Porzellan mit der Kante auf dem Steinboden aufschlug und in tausend weiße, hässliche Splitter zersprang.
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