„Mein lieber William, wie freue ich mich, dich zu sehen! In der Tat, drei Jahre ist es bald her, daß wir uns das letzte Mal gesehen haben. Da wurde es doch wieder einmal Zeit, nicht wahr?“ Sie drückte ihm zwei flüchtige Küßchen à la française auf die Wangen und plapperte munter weiter: “Wo ist denn meine liebe Catherine? Ach, da kommt sie ja. An mein Herz, meine liebste Freundin!“
Flugs lag ich in Emmas Armen. Ich wußte gar nicht, wie mir geschah und war zunächst sprachlos, was bei mir schließlich äußerst selten vorkommt. Aber Emma ließ mir nicht einmal Zeit für eine Erwiderung, denn nun fiel ihr Blick auf Lizzie, die gerade erfolglos von der Suche nach ihrem Vater zurückkehrte und mit hochrotem Kopf den Salon betrat:
„Elizabeth, bist du das? Nein, wie bist du in den drei Jahren… gewachsen! Laß dich umarmen!“
Lizzie spielte mit, auch wenn sie die offensichtliche Anspielung auf ihre Gewichtsveränderung kränkte. Denn schließlich war sie leider seit über zehn Jahren nicht mehr in die Höhe gewachsen... nur in die Breite.
Aphrodite begrüßte uns weit weniger stürmisch und unterließ zum Glück auch jegliche Bemerkung. Emma erinnerte sich daraufhin, daß die Familie doch ursprünglich noch mehr Mitglieder gehabt habe. Sollte die jüngere Tochter inzwischen verheiratet sein?
„Nein, meine liebe Emma, leider noch nicht.“ Mich wurmte es, daß sie gleich zu Beginn meinen wunden Punkt getroffen hatte. Doch das konnte ich natürlich nicht zugeben und versuchte, ihr endlich den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Aber vielleicht ist es bald soweit. Helena ist mit einem sehr vielversprechenden jungen Mann nach Rochester gefahren, um dort ein paar notwendige Dinge zu erledigen. Denn - wie du siehst - sind wir momentan ein Trauerhaus. Du solltest später der Verstorbenen die letzte Ehre erweisen.“
Hier bot sich die Gelegenheit, Emma über die Ereignisse der letzten Tage zu unterrichten und ein wenig mit unseren neuen Freunden und dem großzügigen Angebot Williams zu deren Aufnahme zu renommieren. Aber das schien keine so gute Idee gewesen zu sein, denn Emma fragte sofort:
„Wann kommt denn der junge Herr zurück, meine liebe Catherine? Ich würde ihn und seinen Vater zu gern kennenlernen.“
Ich konnte mir denken, weshalb. Emma war keine Frau, die mit ihrer Wittschaft zufrieden war.
„Wir erwarten sie gegen Mittag zurück. Ihr bleibt zum Essen?“
Und damit meinte ich nur das Mittagsessen.
„Aber sicher, meine liebe Catherine. Und nicht nur das. Wir beabsichtigen, einige Zeit in der Gegend zu verweilen.“
Ich bemerkte, wie William einen lautlosen Seufzer ausstieß und die Augen verdrehte. Offenbar hatte er das viele Gepäck auf dem Wagen vor dem Haus zuvor noch nicht gesehen. Ich hatte es allerdings gleich befürchtet. Die Gallinghers machten nicht eine so weite Reise, um nur einen einzigen Tag zu bleiben. Vorsichtig und möglichst unverbindlich mischte sich mein Mann in das Gespräch ein:
„Wie lange gedenkt ihr denn zu bleiben, meine liebe Emma?“
Emma schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
„Das ist unbestimmt, mein lieber William. Solange wir nicht stören – aber wir stellen ja keine Ansprüche. Weißt du, wir mußten einfach einmal ein wenig andere Luft atmen. Außerdem habe ich eine kleine geschäftliche Angelegenheit mit dir zu regeln. Dazu aber später. So eine Veränderung der Umgebung soll ja Wunder wirken. Ich habe mich in den letzten Monaten so depressiv gefühlt – Aphrodite kann dir bestätigen, daß ich kaum ein Wort gesagt habe. Und da sie auch nicht viel redet, herrschte in unserem Hause beinahe Totenstille. Dadurch wird man natürlich noch trübsinniger... Ach, wir haben es wirklich nicht leicht.“
Ich überhörte den letzten Satz geflissentlich. Als praktische Hausfrau mußte ich die beiden Damen auf eine gravierende Schwierigkeit aufmerksam machen:
„Es gibt da allerdings ein Problem, Emma... Ihr wißt, wir haben nur zwei Gästezimmer. Diese werden jedoch zur Zeit von den Herren LeFroy in Anspruch genommen. Wir können euch also kein Quartier bieten, so Leid es uns tut. Doch vielleicht findet sich in der näheren Umgebung etwas…“
Ich setzte eine bekümmerte Miene auf. Emma schien ebenfalls enttäuscht zu sein.
„Oh... das ist wirklich sehr schade. Wir hatten gehofft, daß wir eure Gastfreundschaft eine oder zwei Wochen lang genießen könnten. Und wenn... aber nein, das wäre zuviel verlangt.“
Sie unterbrach sich demonstrativ, um die anderen zu einer Nachfrage anzuregen. Ich durchschaute sie sofort. William aber ließ sich aufs Glatteis führen. Er übersah meine warnenden Blicke und fragte:
„Was wäre zuviel verlangt, Cousine?“ Oh, ich hätte ihn… Warum nur mußte er nachfragen? Nun hatte Emma gewonnen. Dennoch zierte sie sich noch einen Moment lang:
„Nein, nein... ich dachte nur... aber das geht wahrscheinlich nicht.“
Sie schwieg noch einmal demonstrativ und gab sich den Anschein höchster Bescheidenheit. Ich kochte vor Wut. Zum einen ärgerte ich mich über ihre hinterhältige Weise, sich unsere Gastfreundschaft zu erschleichen, zum anderen über Williams Blauäugigkeit. Wenn die Männer doch einmal ihren Verstand einschalten könnten, wenn eine Frau sie von hinten überfällt…
„Aber so rede doch, wenn du eine Idee hast, Emma!“ William hielt es kaum noch auf seinem Stuhl. Jetzt konnte Emma mit der Sprache herausrücken:
„Nun... vielleicht könnte eine deiner Töchter zu der anderen ziehen... nur für eine kurze Zeit natürlich. Aber das ist nur ein Gedanke, ich würde nie wagen, das zu verlangen. Vergiß es am besten wieder, William.“
Ich sah meinen Mann wütend an. Ich hatte es doch geahnt! Er war schon immer auf solche Tricksereien hereingefallen. Nun mußten wir natürlich gute Miene zum bösen Spiel machen, wollten wir nicht bald in der Verwandtschaft als geizige und nicht gastfreundliche Familie verschrieen sein. So machte ich Emma zähneknirschend das Angebot, auf das diese hingearbeitet hatte:
„Das wäre eine Möglichkeit. Daran hatten wir nicht gedacht. Wenn euch ein bescheidenes Jungmädchenzimmer als Bleibe genügt, würden wir uns freuen, wenn ihr einige Zeit unsere Gäste wäret.“
Emma strömte über vor Herzlichkeit.
„Meine liebe Catherine! Das ist ein ungemein großzügiges Angebot, das wir unmöglich ausschlagen können. Was meinst du, Aphrodite?“
Aphrodite setzte ein leicht säuerliches Lächeln auf. Wahrscheinlich gefiel ihr der Gedanke, mit ihrer Mutter einige Zeit in demselben Zimmer zu verbringen, überhaupt nicht. Dennoch erwiderte sie:
„Liebe Mama, du hast ganz recht, dieses Angebot ist wirklich sehr großzügig.“
Dann bedankte sie sich bei mir und William. Ich dachte notgedrungen gleich weiter.
„Lizzie, da du das größere Zimmer mit dem breitesten Bett bewohnst (das stimmte nicht, es war das kleinere Zimmer, aber ich wollte den beiden Damen das Leben in meinem Haus nicht angenehmer als nötig machen, damit sie gar nicht erst allzu lange blieben...), bist du sicher bereit, eine Zeitlang zu Helena zu ziehen.“
Lizzie war überhaupt nicht dazu bereit, das sah ich ihr an. Doch sie hatte keine Wahl. Und als ob es nicht schon genug Aufregungen wären, vernahm ich plötzlich Schritte in der Eingangshalle und das etwas gekünstelt wirkende Lachen von Helena. Ich hatte überhaupt nicht darauf geachtet, daß ein Wagen gekommen war.
Als die beiden jungen Leute eintraten, waren sie freilich überrascht, Gäste im Salon zu sehen. William stellte die beiden Damen vor, und Emma hielt auf etwas aufdringliche Weise Louis LeFroy die Hand zum Kusse hin. Der ergriff sie und wiederholte die höfliche Geste auch bei Aphrodite. Helena begrüßte die beiden Damen ebenfalls, doch ich sah, daß auch sie nicht begeistert über deren Anwesenheit war. Ich berichtete kurz über den Anlaß des Besuches und den Beschluß, daß Lizzie vorübergehend zu Helena ziehen würde. Helenas Miene verdüsterte sich dabei noch ein wenig mehr. Elizabeth sah so betrübt drein, daß ich sie gern getröstet hätte. Doch mir fielen nicht die passenden Worte ein. Um sie abzulenken, schickte ich nach dem Hausmädchen und der Köchin, die uns beim Umzug helfen sollten und übernahm selbst die Oberaufsicht. Helena mußte im Salon die Stellung halten, denn mir war nicht entgangen, daß Mr LeFroy sich in ihrer Gesellschaft immer wohler zu fühlen schien.
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